Schweigen, Erinnern und Mitgefühl.

Pfarrer Thomas Förster predigte am 11. Mai in der Arche über das Ende des 2. Weltkriegs vor 75 Jahren.

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
80 Jahre ist es jetzt her: Am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr trat die Kapitulation Deutschlands in Kraft. Hier in Solingen übernahmen US-Soldaten bereits Mitte April das Kommando. Aber mit dem ausklingenden 8. Mai waren die Kampfhandlungen überall vorbei. Aber war damit auch Frieden?

Ich möchte Ihnen von einem jungen 15-jährigen Mädchen erzählen. Den 8. Mai 1945 erlebte es bei fremden Menschen. Als ältestes von sechs Kindern war es auf einem Bauernhof untergekommen. In der Nähe von Cuxhaven. Dort arbeitete das Flüchtlingskind auf dem Hof, als Gegenleistung für Unterkunft und Essen. Geboren und aufgewachsen war es in der Nähe von Königsberg. Am Tag der Kapitulation hatte das Mädchen zusammen mit seiner Mutter und den fünf Geschwistern die Hölle hinter sich. Es gehörte zu den Zehntausenden, die im Januar/Februar 1945 aus Ostpreußen vor der anrückenden Sowjetarmee nach Westen geflohen waren. Bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad zu Fuß und auf Pferdewagen über das zugefrorene Frische Haff, einen Teil der Ostsee. Tag und Nacht waren sie in langen Trecks über das Eis geflohen, immer wieder bedroht von Fliegerangriffen und vom brüchigen Eis. Viele Tausend haben auf dieser Flucht ihr Leben verloren. Die Angst, es nicht lebend ans rettende Ufer zu schaffen, muss unvorstellbar gewesen sein. Das Mädchen, ihre fünf Geschwister und ihre Mutter haben es geschafft. Gottseidank! Per Schiff und per Zug ging es für sie dann weiter bis nach Cuxhaven. Dort kam sie bei verschiedenen fremden Menschen unter, konnte dort wohnen und essen, immer gegen harte Arbeit.

Das 15-jährige Mädchen war meine Mutter. Und die Flucht aus Ostpreußen, die Hölle auf dem Frischen Haff, der Krieg, die Angst sind auch ein Stück meiner Familiengeschichte. Und ein Stück meiner eigenen Lebensgeschichte. Denn als am 8. Mai 1945 die deutsche Kapitulation in Kraft trat, war für meine Mutter der Krieg nicht vorbei. Und für viele andere auch nicht. Jedenfalls nicht wirklich. Da war das vergebliche Warten auf eine Nachricht über ihren Vater, meinen Großvater. Erst etwa 30 Jahre später schickte das Rote Kreuz die Nachricht, dass die Suche ergebnislos beendet worden sei. Da waren die furchtbaren Erinnerungen. Die Dämonen dieser Flucht, mit denen sie nur umgehen konnte, in-945 noch regelmäßig bei uns zuhause zu Gast. Ein präsenter Teil meiner Familiengeschichte. Und so wurde auch ich zu einem Opfer dieses Krieges. Durch die Erzählungen, die ich als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener immer wieder gehört habe: die Flucht über das Frische Haff, immer wieder die Angriffe der Tiefflieger auf die Flüchtenden, das geliebte Pferd, wie es im Eis einbricht und ertrinkt, das Entsetzen, die Trauer, die Angst, die Tränen in den Augen meiner Mutter. Für mich war seit meiner Kindheit der Krieg immer wieder Realität.

Pfarrer Thomas Förster

Vielleicht kennen Sie Ähnliches. Aus eigener Erinnerung oder aus geteilten Erinnerungen von Eltern und Großeltern. Vielleicht war es bei Ihnen nicht die Flucht über das Frische Haff, sondern die verheerenden Bombenangriffe des 4. und 5. November 1944 auf Solingen. Oder ein anderes Grauen des Krieges, das mit dem 8. Mai 1945 nicht einfach aufhörte. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs gingen für viele weiter. Auch über Generationengrenzen hinweg. Und erst recht gilt das für Opfer und Angehörige der von Deutschen misshandelten Menschen und Nationen. Für die wenigen Überlebenden der nationalsozialistischen Massenmorde und die Angehörigen der vielen Opfer. Für die Familien der Zwangsarbeiter. Der Krieg geht weiter bis heute. Weil das Erinnern weitergeht. In Köpfen und Herzen. Ob wir wollen oder nicht.

Wie also können wir heute nach 80 Jahren auf dieses so genannte Kriegsende blicken? Wie können wir diesem Datum, diesem Geschehen, heute begegnen? Auch als Christinnen und Christen? Ich möchte Ihnen verschiedene Antworten anbieten.

Meine erste Antwort: Indem wir angesichts der Ungeheuerlichkeit dieses Krieges, dieser Grausamkeiten einen Moment lang verstummen. Der 8. Mai stand am vorläufigen Ende einer ungeheuren Gewalt, einer ungeheuren Schuld, eines ungeheuren Leids, das am Anfang von Deutschland ausging und am Ende auch die Menschen in Deutschland wieder erreichte. In den knapp sechs Jahren des Zweiten Weltkrieges starben mehr als 60 bis 75 Millionen Menschen: Soldaten und Männer, Frauen, Kinder der Zivilbevölkerung. Darunter sechs Millionen ermordete jüdische Menschen. Und ungezählte Menschen mehr wurden verwundet: an Leib und an der Seele. Eine monströse Bilanz des nationalsozialistischen deutschen Überlegenheitswahns. Und ich denke: Vielleicht ist es richtig, angesichts eines solchen Schreckens zuerst einmal still zu sein und zu schweigen. Wie viel Unvorstellbares haben Menschen anderen Menschen angetan? Wie sehr hat unser Land versagt: Politik, Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft, ja und zum größten Teil auch unsere Kirche? Wie verstrickt waren die Menschen, unsere Eltern, Großeltern, Urgroßeltern in diese Schuld? Die Antworten auf diese Fragen sind so groß, so schwer. Sind kaum in Worte zu fassen. Vielleicht ist angesichts dessen zunächst eine Moment des Schweigens die angemessene erste Reaktion. Darum lassen Sie uns jetzt eine Minute lang schweigen. Eine Schweigeminute für die vielen Opfer: für alle, die in diesem sinnlosen Morden ihr Leben verloren. Für alle, die ihr weiteres Leben ohne Vater oder Ehemann führen mussten, ohne Bruder oder Schwester oder Mutter, ohne geliebte Menschen. Für alle, die fortan unter den Folgen ihrer schweren Verwundung litten – Verwundung des Körpers oder der Psyche. Schweigen aus Solidarität mit den Opfern. Schweigen aus Scham, dass solche Taten möglich waren. Schweigen als eine erste Antwort auf dieses Datum. Eine Minute. Zum stillen Gebet oder für ihre Gedanken.

Liebe Schwester und Brüder, im Johannesevangelium lesen wir, wie Jesus in einer seiner letzten Reden, seinen Freundinnen und Freunden Mut zuspricht für die Zeit, wenn er nicht mehr da sein wird. Und er sagt zu ihnen: „Zum Abschied schenke ich euch Frieden. Ich gebe euch meinen Frieden. Ich gebe euch nicht den Frieden, wie ihn diese Welt gibt. Lasst euch im Herzen keine Angst machen und lasst euch nicht entmutigen.“ (Johannesevangelium 14,27). Jesus schenkt Frieden. Aber nicht wie ihn die Welt gibt. Nicht als Folge unseres friedlichen Handelns. Weil Jesus weiß, wie unfriedlich wir Menschen oft sind. Das ist ja das Wunder von Karfreitag und Ostern. Trotz menschlichen Versagens, trotz menschlicher Schuld schenkt Jesus uns Frieden. Aber nicht um den Mantel des Schweigens über das zu decken, was zu Tod und Elend und Krieg geführt hat. Sondern damit wir uns dem, was gewesen ist, stellen. Jesus trägt die Last der Vergangenheit mit uns. Jesus befreit uns von der Angst, wir könnten unter der Schuld zusammenzubrechen, wenn wir sie an uns heranließen. Und darum können wir sie an uns heranlassen. Weil Jesus uns von Angst befreit, können wir es wagen, doch über das Ungeheuerliche zu sprechen. Auch über eigene Verantwortung. Und das ist ja so unendlich wichtig, und gleichzeitig so unendlich schwierig. Erinnern tut not. Zur Sprache bringen und eingestehen, was da geschehen ist, tut not. Es muss sich erinnert werden. Denn nur so kann aus der Geschichte gelernt werden.

zerstörte Dorper Kirche kurz vor Ende 2. Weltkrieg

Erinnern tut not. Wer wüsste das besser als wir? Als Christenmenschen erinnern wir uns jedes Jahr neu an Karfreitag daran, wozu Menschen fähig sind. Und als Christenmenschen feiern wir jedes Jahr am Ostermorgen die Hoffnung, dass Gott uns trotzdem einen Neuanfang anbietet. Aber das bedeutet nicht „Schwamm drüber“. Gott ist kein „Schwamm-drüber-Gott“! Sondern er mutet uns zu, uns zu erinnern. Um uns zu ändern. „Lasst Euch keine Angst machen“, sagt Jesus: „Lasst euch nicht entmutigen!“ Und ich würde ergänzen: „Auch nicht von eurer eigenen Geschichte.“ Nur Erinnern kann uns davor bewahren, die Verbrechen des Dritten Reichs und die deutsche Verantwortung für die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs als eine Episode abzutun, die endgültig vorbei wäre. Oder sie als einen bedeutungslosen Unfall unserer deutschen Geschichte zu verharmlosen.

Erinnern bewahrt uns davor, den seit 80 Jahren bestehenden Frieden und die demokratische Freiheit in unserem Land als selbstverständlich anzusehen. Erinnern ermahnt uns, für Frieden und Freiheit einzutreten, um sie an unsere Kinder weiterzugeben. Darum ist das meine zweite Antwort auf die Frage, wie wir diesem Datum 8. Mai 1945 gerecht werden können: indem wir uns erinnern und uns der Verantwortung stellen.

Und meine dritte Antwort lautet: dadurch, dass wir Mitgefühl empfinden. Ich bin überzeugt: Dieser Krieg und diese Unmenschlichkeit war nur möglich, weil man vorher das Mitgefühl ausgeschaltet hatte. Unter anderem, indem Menschen entmenschlicht worden waren. Diese Entmenschlichung stand am Anfang der nationalsozialistischen Verbrechen. Und auch für heutige Kriegsführung ist das Ausschalten des Mitgefühls elementar. Wie sonst könnten Soldaten zivile Wohnblocks, überfüllte Krankenhäuser, belebte Marktplätze zu Zielen ihrer Bomben und Raketen zu machen? Wenn wir auf Jesus Christus blicken, blicken wir auf Gottes menschgewordenes Mitgefühl mit dieser Welt. Jesus predigt das Gegenteil von Entmenschlichung. Jesus sieht in allen Menschen Gottes geliebte Kinder. Und er mahnt uns zu gegenseitiger Mitmenschlichkeit, zu universeller Nächstenliebe, die sich nicht auf die eigene Familie oder Nation begrenzt.
Der jüdische Autor und Überlebende der Shoah, Elie Wiesel, hat einmal sinngemäß gesagt: „Das Gegenteil von Erinnern ist nicht Vergessen, sondern Gleichgültigkeit.“ Gleichgültigkeit darf es aber im Namen Jesu nicht geben: nicht gegenüber unserer Vergangenheit und nicht gegenüber anderen Menschen. Keine Gleichgültigkeit gegenüber den Kindern, Frauen, Männern, die heute zu Opfern von Krieg und Gewalt werden: an so vielen Orten dieser Welt. Keine Gleichgültigkeit gegenüber denen, die heute zu Opfern von Antisemitismus, Rassismus oder anderen Ideologien werden, die Menschen mit Hass überziehen. Keine Gleichgültigkeit gegenüber Menschen, die im Mittelmeer in tödliche Seenot geraten, weil sie auf der Flucht nach Europa sind.

Zu den Geschichten meiner Mutter gehört auch, wie den Flüchtlingen von damals gelegentlich „Haut ab, ihr Pollaken!“ hinterhergerufen wurde. Kein Mitgefühl mit denen, die so Schlimmes erlebt hatten. Kein Mitgefühl bei vielen. Damals. Und wir heute? Besser wären wir dann, wenn wir uns für unsere geflüchteten oder beschimpften Mitmenschen interessierten. Wenn wir uns für ihre Nöte interessierten, für ihre Verletzungen. Und: Besser wären wir, würden wir für sie beten. Solches Beten für andere, hielte auch unser Mitgefühl lebendig. Menschen, für die man betet, sind einem nicht egal. Auch Beten für andere ist ein Akt gegen die Gleichgültigkeit. Und es ist immer wieder ein Anstoß für unser solidarisches Handeln.

„Ich gebe euch meinen Frieden. Ich gebe euch nicht den Frieden, wie ihn diese Welt gibt. Lasst euch im Herzen keine Angst machen und lasst euch nicht entmutigen.“ So verspricht es Jesus. So ermahnt uns Jesus. Im Gedenken an den 8. Mai 1945 können wir einen Moment still werden. Stille vor dem ungeheuren Ausmaß der Schuld. Damals und angesichts vieler Kriege auch heute. Wir können uns erinnern an die Verantwortung für den Krieg und die Umstände der Gewaltherrschaft. Und wir können Mitgefühl empfinden und uns für die Opfer interessieren, die Opfer von damals und von heute. Damit wir Gleichgültigkeit gegenüber Menschen überwinden und aktiv werden. Weil Jesus Frieden schenkt. Weil in Jesus Gottes Mitgefühl mit allen Menschen in diese Welt gekommen ist. Weil Gott selbst dafür sorgen wird, dass die Krieg ein Ende haben werden. Alle Kriege. Eines Tages. Darauf dürfen wir hoffen. Und danach können wir leben. Schon jetzt. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft und tiefer als auch der tiefste Schmerz, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Thomas Förster

Kirchenkreis Solingen