Was hast Du getan?

Predigt von Pfarrer Jo Römelt beim Gedenkgottesdienst in der Stadtkirche am 24. August zum Attentat auf dem Fronhof am 23.8.2024.

Wie seid Ihr heute hier? Was habt Ihr mitgebracht – an Schmerz, an Trauer, an inneren Bildern, an Gedanken und Gefühlen? Ein Jahr danach? Bei mir meldet sich in diesen Tagen wieder so vieles. Die Gespräche in dieser Nacht in der Gläsernen Werkstatt. Die Fassungslosigkeit. Die hilflose Trauer um die Menschen, die trotz aller Bemühungen nicht überleben konnten. Die Angst und der Schmerz von Angehörigen, die auf neue Nachrichten warteten. Ich sehe die Rettungskräfte vor mir, die alles gegeben haben – und einfach nur fertig und erschüttert waren. Und dann kommt der Gedanke wieder hoch, der in dieser Nacht auch da war: dass das alles nicht wahr sein kann, nicht wahr sein darf. Und doch passiert ist. In meiner, in unserer Stadt. Das alles ist heute wieder da. Wie sehr wird das erst bei denen unter Euch sein, die noch viel näher dran waren, oder viel unmittelbarer betroffen. Weil sie selbst verletzt worden sind an Leib oder Seele. Oder einen lieben Menschen verloren haben, von einem Moment auf den nächsten. Ich ahne nur, was das bedeutet. Und es macht mich in manchen Momenten bis heute stumm.

Pfarrer Jo Römelt (Dorp)

Und dann spüre ich Zorn. Darüber, wie leicht es ist und wie wenig es braucht, um Leben zu zerstören oder nachhaltig zu verletzen, körperlich und seelisch. Wie leicht es ist und wie schnell das geht: Menschen tief zu verängstigen und Unsicherheit in eine ganze Stadt zu bringen. Und wie viel Zeit, wie viel Mühe, wie viel ärztliche Kunst, wie viele Gespräche braucht es, wie viele neue Anläufe, bis von diesem Zerstörten wieder etwas aufgebaut wird, bis Wunden wieder heilen können, zumindest bis zu einem bestimmten Punkt. Es berührt mich tief, wenn ich von Betroffenen und ihren Lieben davon höre oder lese. Und ich bewundere zugleich, mit wieviel Einsatz so viele daran arbeiten, Ängste und Schmerz zu überwinden, so gut es geht. Nach und nach den Mut zu entwickeln, wieder in die Stadt zu gehen, sogar auf dem Fronhof zu musizieren und vieles mehr. Ich kann das nur bewundern. Und bin heute einfach dankbar, dass wir hier zusammensind und all das teilen. Kein Terror kann und darf das verhindern.

Mir ist seit letztem August das dritte der zehn Gebote immer wieder in den Sinn gekommen. Das wir sonst nicht so oft erinnern wie andere. Und das doch so wichtig ist. Da heißt es ganz klar: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen!“ Ausrufezeichen! Ich kann mir keinen schlimmeren Missbrauch vorstellen, als Menschen im Namen Gottes zu töten oder schwer zu verletzen. Und ich würde dem Täter und allen, die ihm das eingeflüstert haben, und allen, die es genauso machen irgendwo auf der Welt, ganz gleich aus welchem Glauben heraus, am liebsten direkt ins Ohr schreien: „Glaubst Du im Ernst, Du dienst Gott, wenn Du so etwas tust? Glaubst Du im Ernst, es kann in irgendeiner Weise Gottesdienst sein, Gewalt zu üben, zu morden, Seelen zu zerstören? Nein, Du dienst Gott nicht damit! Du lästerst ihn! Du benutzt ihn für Deinen Frust und Deinen Hass. Du missbrauchst Gottes Namen, wenn Du meinst, über Glauben und Unglauben urteilen zu können, wenn Du meinst, Menschen angreifen zu dürfen, weil Du Ihr Leben ablehnst oder weil Du sie als ungläubig ansiehst. Nur Gott allein weiß, was im Herzen eines Menschen ist. Wer bist Du, dass Du Dich an seine Stelle setzt?“ Wenn wir dieses Gebot einigermaßen ernstnehmen würden, würde es so viel Schrecken in dieser Welt nicht geben.

neues Banner an der Seite der Stadtkirche

„Wo bist Du, Mensch? Und wo ist Dein Bruder?“ Diese Fragen hat Ilka Werner vor einem Jahr hier im Gottesdienst so eindrücklich gestellt. Zusammen mit der Frage, wo Gott ist angesichts eines so schrecklichen Ereignisses. Ich frage mich das auch, immer wieder. Und möchte gerne einen Satz anschließen, der in der Bibel ganz kurz danach kommt. Den Satz, mit dem Gott Kain anspricht, nachdem der seinen Bruder Abel erschlagen hat: „Was hast Du getan! Das Blut Deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Ich wünsche mir oft fast kindlich, Gott möge solche schrecklichen Taten einfach nicht zulassen. Verhindern. Dem Täter in die Arme fallen oder was auch immer. Ich muss Euch nicht erzählen, dass es so nicht ist – oder zumindest längst nicht immer. Wir sehen jeden Tag unsägliches Leid, das Gott nicht verhindert. Und ich werde bis zum Ende meines Lebens wohl keine Antwort darauf finden, warum das so ist. Und trotzdem will ich nicht aufhören zu glauben, dass er da ist. Und unsere Not teilt. Trotzdem lassen mich Sätze wie der an Kain immer wieder hoffen: Es geschieht kein Verbrechen, kein Unrecht auf dieser Welt, das Gott nicht sieht. Und dessen Schreien er nicht hört. Das ihm egal wäre oder ihn unberührt ließe.

Es gibt kein Verbrechen, das nicht irgendwann zur Sprache kommt. Keine Wunde, die er aus dem Auge verliert. Nichts verhallt einfach nur, über nichts wächst einfach Gras. Weil da einer ist, der sagt: „Euer Schmerz, Eure Not, Eure Trauer, Euer Zorn – all das schreit zu mir von der Erde. All das kommt bei mir an. Und auch wenn es sich oft anders anfühlt: Mit all dem seid Ihr nicht allein.“

Ansprache von Superintendentin Dr. Ilka Werner am Mittag des 23.8.25

Kann das helfen? Vielleicht. Ich weiß nicht, wie es für Euch ist. Was kann überhaupt helfen? Was kann heilen – oder zumindest Mut machen? Was hat Euch gutgetan, vor allem denen unter Euch, die am stärksten betroffen waren und sind? Jemand, der einem der Verstorben sehr nahestand, hat mir gesagt: „Ich habe keine Botschaft für die Besucher des Gottesdienstes oder für die Solinger Bürger. Außer, dass es mir gutgetan hat, dass damals so viele Menschen aufrichtiges Mitgefühl gezeigt haben, so viele Menschen zur Gedenkstätte gingen, Blumen, Kerzen und Texte brachten, oder einfach nur dastanden und innehielten, in Gedanken versunken. Untereinander ins Gespräch kamen, Ihre Anteilnahme zeigten, und das viele Wochen lang. Das hat mich sehr beeindruckt und sehr berührt.“

Gedenkstein vor der Stadtkirche mit Öllichtern, die am Jahrestag des Attentats vor einem Jahr aufgestellt wurden.

Ich glaube, es ist so wichtig, sich auch dran zu erinnern. Gerade daran. Habt Ihr noch dieses Meer von Blumen und Kerzen vor Augen hier vor der Stadtkirche? Das jeden Tag größer wurde? Und wenn alte Blumen verwelkt waren, kamen neue und frische dazu. Und wie gesagt: immer wieder Menschen. Ganz unterschiedliche Menschen. Die mit oder ohne Worte gezeigt haben: Wir fühlen mit Euch! Wir sind nicht unmittelbar betroffen – und doch betrifft es uns so sehr. Wir denken an Euch. Und wir stehen hier für etwas ganz anderes. Für Menschlichkeit. Für ein friedliches Zusammenleben. Für ein Leben, in dem es möglich ist, sich ohne Angst zu bewegen. Ja, das hat so gutgetan. Und das ist es, was wir vor allem weiter brauchen: Anteil nehmen. Mitgefühl zeigen. Einander spüren lassen, dass es uns nicht egal ist, was Menschen in unserer Stadt geschieht. Auch wenn wir sie gar nicht persönlich kennen. Ins Gespräch kommen, immer wieder. Wir sehr krankt unsere Gesellschaft daran, dass das oft so schwierig geworden ist! Und wie heilsam kann es sein, wenn wir das neu lernen: wirklich zuzuhören. In einer Sprache miteinander zu reden, die nicht hasserfüllt ist, die nicht zum Ziel hat, den anderen runterzumachen – sondern die verständnisvoll ist. Sachlich. Zugewandt.

Segens-Emoji und Wunsch auf der Fassade der nächtlichen Stadtkirche

Natürlich sind auch andere Fragen wichtig zu beantworten: Wie können wir besser erkennen, wenn Menschen sich radikalisieren und sich furchtbare Ideen einflüstern lassen? Wie können wir die Organe unseres Rechtsstaats stärken, dass sie schneller und entschlossener darauf reagieren können? Was können wir politisch und gesellschaftlich dafür tun, dass Menschen sich verbunden und als Teil der Gesellschaft fühlen – und sich ihr nicht hasserfüllt gegenüberstellen? Wo müssen wir berechtigte Erwartungen deutlicher formulieren? Und so weiter. Auch das wird immer neu wichtig sein: dass wir sachlich über diese Dinge diskutieren. Damit rechnen, dass auch der politische Gegner vielleicht etwas Wahres und Hilfreiches dazu zu sagen hatte. Auf allen Ebenen das respektvolle Gespräch neu lernen. Anstatt einander nur polemisch anzugreifen. Schlagworte, Etiketten, Schubladen, markige Sprüche gibt es gerade viel zu viel. Lasst uns daran arbeiten, dass das anders wird. Und immer wieder etwas dafür tun, dass Hass und Terror niemals ihr Ziel erreichen. So wie es Paulus in seinem Römerbrief ausdrückt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ So gut es geht. Dafür und für alles andere, was jetzt dran ist, wünsche ich Euch und uns allen Gottes heilende Kraft und seinen Segen. Für Leib und Seele. Für unsere Lieben. Und für unsere Stadt.

Amen.

Jo Römelt

Rebekka Nicolini, Gabi Bergfeld, Kathrin Remscheid