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„I hope so!“ Gabi Bergfeld über Demenz bei ihrem alten Vater.
Ökumenische „Woche für das Leben“ vom 30. April bis 7. Mai 2022 zu Leben mit Demenz.
Die Woche für das Leben 2022 will auf die Situation von Menschen mit Demenz aufmerksam machen und einen Umgang mit der Krankheit fördern, der Ängste abbaut. Immer mehr Menschen in unserem Land sind von Demenz betroffen. Sie sind wertvolle Glieder unserer Gesellschaft und sollen spüren können, dass ihr Leben schützenswert ist. Die Woche für das Leben ist seit mehr als 25 Jahren eine ökumenische Initiative der evangelischen und katholischen Kirche für den Schutz und die Würde des Menschen vom Lebensanfang bis zum Lebensende. Den zentralen Auftakt der Woche für das Leben bildet die bundesweite Eröffnung am Samstag, 30. April 2022, in der Leipziger Nikolaikirche durch den stellv. Vorsitzenden der kath. Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Franz-Josef Bode, und die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Dr. h. c. Annette Kurschus.
„I hope so!“
Erfahrungen mit ihrem dementen Vater von Gabi Bergfeld
Was für eine Verblüffung, als mein Vater diesen kleinen Satz heute unvermittelt gebrauchte. Englische Vokabeln, an geeigneter Stelle eingesetzt in einem Telefonat, das wir mit meinem Bruder führten! Die Namen seiner beiden Söhne kommen ihm nur noch selten über die Lippen. Und nun auf Englisch: Ich hoffe das!
Mein Vater ist mit 99 Jahren nicht nur hochbetagt, sondern auch hochgradig dement. Das ist der Hintergrund, vor dem ich hier über Demenz schreibe. Kein Fachartikel, keine Rezeption von Studien über Demenz, keine Statistiken. Sondern, sehr passend für diese Rubrik, Innenansichten. Oder sollte ich das eher als Außenansichten bezeichnen? Denn wie oft stelle ich mir die Frage: Was ist in diesem Kopf los? Wie sehr verändert es das Leben, wenn Funktionen des Gehirns sich schleichend verabschieden….
Ich nähere mich dem Thema sozusagen rückwärts. Heute begegne ich da einem Menschen, der ganz und gar im Augenblick ist. Er nimmt wahr, dass er Besuch hat, er begrüßt mich erfreut und meist noch mit Nennung meines Namens, er geht mit seinem Rollator selbständig neben mir her in sein Zimmer. Dort lässt er sich zum Sessel führen und überlässt es dann ganz mir, die Besuchszeit zu gestalten. Wir haben ritualisierte Abläufe. Die geben ihm, so hoffe ich, Sicherheit. Immer isst mein Vater seinen Apfel, den ich ihm geschält in 16 Stücke teile. An guten Tagen tastet er alleine danach, denn sehen kann er nicht mehr. Er führt die Hand über den Tisch, bis er ein Stück Apfel spürt, das er dann zum Mund führt. Schlechte Tage erkenne ich daran, dass er schwächer und desorientierter ist und er den Tisch von unten absucht. Dann versteht er auch nicht, wenn ich ihm sage, dass er mit seiner Hand auf dem Tisch suchen muss. Es gibt eine einfache Lösung: Ich füttere ihn. Und er sitzt da, reißt seinen Mund auf und genießt das, wenn ich ihm zunächst den Apfel, anschließend Schokolade oder Kekse hineinschiebe. „Schmeckt es dir?“ „Hmm, lecker! Du verwöhnst mich immer so!“ Das sagte er auch heute wieder am Telefon: „Mir geht es gut, danke. Und ich werde hier immer so verwöhnt.“ Er genießt diesen Moment. Und ich weiß, dass er ihn wenige Minuten später vergessen haben wird.
Es gibt einen wichtigen Zeitpunkt. Nicht gestern, nicht morgen, sondern jetzt. Die Gegenwart zählt.
Was mir von Spruchkarten her bekannt ist, wird hier konkret: Es gibt einen wichtigen Zeitpunkt. Nicht gestern, nicht morgen, sondern jetzt. Die Gegenwart zählt. Dieser Moment will gelebt sein, der Empfindungen anrührt, die auch ohne gesundes Gehirn wahrgenommen werden. Manchmal kommt es mir vor, als sei mein Vater dauerhaft in dem Zustand, den ich meditierend zu erreichen versuche. Einfach nur sein und atmen und geschehen lassen, was geschieht.
Mein Vater spürt, dass Menschen an ihn denken. Ich richte ihm oft Grüße aus. Aus der Familie, aus dem Seniorenchor, aus der Kantorei. Er freut sich, er bedankt sich, aber er hat keinerlei Bild mehr von den einzelnen Menschen. Ganz oft sagt er: „Da müsste ich mich ja jetzt bedanken. Aber ich kann nicht mehr schreiben.“ Ich beruhige ihn und verspreche, das für ihn zu übernehmen. Für mich ist klar: Er bleibt irgendwie immer in Verbundenheit und er ist erfüllt von einer ganz tiefen Dankbarkeit. Er ist dankbar für sein Leben und für jeden Tag. Ich bewundere diese Haltung, die er an den Tag legt. Er klagt nicht, er jammert nicht über alle Beschränkungen, die Alter und Demenz ihm zumuten, sondern er dankt. Und ich, Tochter eines früher sehr strengen Vaters, staune über die Zärtlichkeit, die nun von diesem Menschen ausgeht. Zart und zärtlich, so erscheint er mir heute.
Oft schweigen wir miteinander, manchmal hören wir Musik oder ich lasse ihn über mein Handy an unseren gestreamten Dorper Gottesdiensten teilhaben. Häufig lese ich ihm vor. Unsere damit einhergehenden Dialoge sind komisch. Sie sind gelegentlich so absurd, dass ich sie aufschreiben oder aufnehmen muss, um sie annährend wiedergeben zu können. Und ich merke daran, wie sehr mich diese Krankheit Demenz mit verändert hat. Noch immer übe ich mich in dem angemessenen Umgang, aber alles ist so viel leichter geworden, seit ich verstanden habe, dass ich als nächste Angehörige ebenfalls lernen muss, mit dieser Krankheit zu leben. Dazu gehört, dass ich mich auf die Möglichkeiten, die Wahrnehmungen und Aussagen meines Vaters einlasse, statt sie zu korrigieren. Ich will ein Beispiel erzählen.
Mein Vater schaut sehr unruhig in seinem Zimmer herum und wundert sich laut über die vielen Kinder. „Das sind ja Hunderte! … Und alle sehen so ähnlich aus. Sind das Geschwister? … Sie laufen alle in die gleiche Richtung. ….“ Früher hätte ich geantwortet: „Vati, hier sind keine Kinder!“ Heute bitte ich ihn, genau hinzusehen und mir mehr zu erzählen. Ich frage ihn nach Einzelheiten, ob die Kinder spielen, wie alt sie sind. Dann fragt er mich plötzlich: „Siehst du sie auch?“ Ich bleibe bei der Wahrheit. „Nein, Vati, ich kann die nicht sehen. DU SIEHST SIE. Und ich frage mich, ob es vielleicht die vielen, vielen Kinder sind, die du als Lehrer und Erzieher in deiner Obhut hattest.“
Oder hier ein Dialog, den ich wiedergebe, wie ich ihn protokolliert habe. Er erinnert mich an Dadaismus (eine Kunstform), an Nonsens (eine literarische Gattung), an verrückt komische Gespräche zwischen kleinen Kindern. Ich finde solche Gespräche wunderbar, weil ich gelernt habe, sie mit Humor und ohne Verzweiflung anzunehmen. Und ich staune auch hier, wozu mein Vater in der Lage ist.
Er, unvermittelt: „Ihr habt also alle die gleichen Kabel, so dass ihr ein Ziel habt.“
Ich: „Ja genau, so könnte man das sagen.“
Er: „Mit euren Kabeln stimmt aber alles, ja?“
Ich: „Ja, unsere Kabel sind zum Glück alle in Ordnung. Und bei dir?“
Er: „Ja, ich glaube, die sind auch alle in Ordnung.“
Noch jetzt beim Schreiben zaubert mir das ein Lächeln auf die Lippen.
Trotzdem. Demenz ist auch grausam. Sie schreitet voran und ergreift die eigene Körperwahrnehmung. Ich beobachte, wie mein Vater seine Hand manchmal nicht mehr als ein ihm angehörendes Körperteil erkennt, wohl aber Schmerzen spürt. Ich beobachte, dass er nicht mehr schmeckt, was er gerade im Mund hat. Ich weiß, dass er eines Tages vielleicht gar nicht mehr selbstständig Nahrung aufnehmen, die Tasse halten, den Rollator schieben kann. Aber noch kann er erstaunlich viel. Ich sehe in ihm ein großes Vorbild für mich, in Würde und Dankbarkeit alt zu werden. Und akzeptieren zu lernen, was nicht zu ändern ist.
Ich bin dankbar dafür, dass ich offenbar irgendwie zur rechten Zeit erkannt habe, dass mein Vater aus seiner eigenen Wohnung in ein Altenheim umziehen sollte…, dass wir ihn davon haben überzeugen können…, dass die Phase aggressiven Zorns von seiner Seite nur kurz währte (auch wenn sie mich schwer getroffen hat)…, dass er im Heim heimisch geworden ist. Und ich bin überaus dankbar, dass ich fast zeitgleich in den Ruhestand versetzt wurde und genug Zeit und Geduld habe, um für ihn da zu sein. Denn das wird mir immer bewusster: Mit der fortschreitenden Demenz wird er immer mehr wie ein kleines Kind. Beide brauchen viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Ich erzähle ihm manchmal, wie viel er und sein jüngstes, halbjähriges Urenkelkind gemeinsam haben. Wir können beide darüber lachen.
Das Aufwachsen wie auch das Davonschleichen in die Demenz aber brauchen mehr als das sprichwörtliche Dorf. Salopp gesagt: Babys und demente Menschen können gar nicht genug Zeit und Liebe kriegen. Sie brauchen Menschen, die mitfühlen, die Ruhe ausstrahlen, die begleiten. Von diesen Menschen gibt es auch in Altenheimen immer zu wenig. Die Gesellschaft, also wir alle, müssen uns den Spiegel vorhalten und uns Fragen stellen. Was ist wirklich wichtig im Leben? Was braucht ein Mensch, um glücklich aufzuwachsen und gut umsorgt glücklich zu sterben? Was dürfen Liebe und Menschlichkeit eine Gesellschaft kosten? Wie werten wir die Berufe auf, die sich der Erziehung, der Pflege, der Lebensbegleitung widmen? Wie wünschen wir uns das eigene Altern, insbesondere dann, wenn die Demenz bei uns einzieht?
Nun möchte ich zum Schluss doch noch auf ein Buch aufmerksam machen, das ich gerne zur Lektüre empfehle. In „Der alte König in seinem Exil“ erzählt Arno Geiger sehr authentisch und liebevoll von seinem demenzkranken Vater und einer sich wandelnden Vater-Sohn-Beziehung. Er erzählt vom Leben.
Ich möchte mit diesem Zitat von ihm enden: „Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder beutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.“ (Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, S. 57/58)
Gabi Bergfeld ist Tochter, Ehefrau, Mutter, Schwester und neuerdings Großmutter. Und sie ist Presbyterin in unserer Gemeinde.
Gabi Bergfeld
Woche für das Leben & Gabi Bergfeld