Gedanken zum Amoklauf von Heidelberg.

Dorper Gemeindemitglied ist als Studienleiter beim Ev. Studienwerk Villigst zurzeit für Heidelberg zuständig

Es macht einen immer noch fassungslos, was da Ende Januar im Hörsaal der Universität im Neuenheimer Feld geschehen ist. Ich kann nur ahnen, wie sich unsere Stipendiat:innen gefühlt haben müssen, als sie über Messengerdienste oder als Eilmeldung im Netz die furchtbare Nachricht gehört habt und Polizeisirenen in der Stadt zu hören waren: Ungläubig, geschockt. Das kann doch nicht wahr sein! „Ein Amoklauf, hier bei uns, in Heidelberg?“ Und mehr noch an Gefühlen: verwirrt, entsetzt, verunsichert, rausgerissen aus dem Alltag. Plötzlich steht alles auf dem Kopf, was bis eben noch Sicherheit bot. Die Uni als Ort des unbeschwerten Lernens. Und, ja auch das, die Gefühle Trauer und Wut, ohnmächtige gar. Wie kann ein 18-jähriger Erstsemester das tun? Um sich schießen, mehrere Kommiliton:innen verletzen, eine Studentin stirbt später an den Folgen. Dann flieht er aus dem Hörsaal und richtet sich selbst. „Wieso gerade in Heidelberg??“

Das Heidelberger Schloß ist das Wahrzeichen der Stadt am Neckar. Hier mit dem Autor Marcus Nicolini und einem der Vertrauensdozent:innen des Ev. Studienwerks in Heidelberg, Professor Hans Lösener

In einer Online-Gedenkandacht des stipendiatischen Konvents Heidelberg sind am Sonntag Worte aus dem Alten Testament (1. Buch Chronik 20) vorgelesen worden: „Und David sprach zu seinem Sohn Salomo: Sei getrost und unverzagt und mache es! Fürchte dich nicht und lass dich nicht erschrecken! Gott der HERR, mein Gott, wird mit dir sein und wir die Hand nicht abziehen und dich nicht verlassen, bis du jedes Werk für den Dienst im Hause des HERRN vollendet hast.“ Dazu kam das „Glaubensbekenntnis“ des 1945 im KZ Flossenbürg ermordeten Theologen Dietrich Bonhoeffer: Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. Ich solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ichglaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, das Gott kein zeitloses Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.

„Sei getrost und unverzagt“. „Fürchte Dich nicht und lass Dich nicht erschrecken.“ Und, noch krasser, Dietrich Bonhoeffers Glaubensaussage, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Wie geht es euch damit, wenn ihr das hört, habe ich meine Stipendiat:innen gefragt? Im Kontext des Amoklaufs fällt es mir schwer, das zu glauben. Da rebelliert alles in mir. Ist das nicht ein zu billiger Trost? Kann ich die Zusage aus dem Alten Testament und von einem der großen Glaubenszeugen des 20. Jahrhunderts überhaupt annehmen? Ich könnte es den Studierenden nicht verdenken, wenn sie sich damit schwer tut. So geht es mir jedenfalls.

Dann kam mir ein Satz aus der Bergpredigt im Neuen Testament in den Sinn. Eines jener dunklen Jesusworte, die bei mir schon immer Unverständnis ausgelöst haben: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Matthäus 5 Vers 45). Ist das nicht ungerecht, dass Gott das Böse nicht verhindert? Wieso darf das sein, dass ein 18-Jähriger, aus welcher Motivation auch immer, auf andere unschuldige Menschen feuert? Und Gott sagt nichts dazu. Schweigt. Auch jetzt in Heidelberg.

Jesus sagt diesen Satz mit der Sonne und dem Regen in einem Kontext, als er eine Aussage des Alten Testaments aus dem 3. Buch Mose und eine – mit Blick auf die römischen Besatzungssoldaten in Judäa sicher zeitgenössische Lebensweisheit – in Zweifel zieht („Liebe deinen Nächsten und hasse deine Feinde“). „Hassen“ ist für Jesus mit Blick auf das kommende Reich Gottes keine Option mehr. Er sagt, „liebt eure Feinde“, denn so wie Gott seine Sonne über Guten und Bösen aufgehen lässt, so ist die Lebenskraft, die Natur, anders ausgedrückt: Gottes Güte, für alle Menschen da. Man kann sich daran stören und dagegen aufbegehren, aber so ist es. Auch der Attentäter war ein Mensch, für den noch am Montagmorgen die Sonne aufgegangen ist. Wie für seine Opfer und für die Eltern. Das ist schwer auszuhalten. Und noch viel schwerer, dazu Ja zu sagen.

Und doch lenkt es den Blick weg von der Fokussierung auf das Schwere, das Unaushaltbare, das Entsetzliche. Wenn ich anerkenne, dass es gutes und böses Handeln der Menschen gibt, komme ich wieder in die Balance. Dann kann ich anfangen mich damit abzufinden, dass es beides gibt. Das ich das Geschehene nicht ungeschehen machen kann. Dann kann ich es aushalten. Dann wird der Blick frei, miteinander zu trauern und das Entsetzliche auszuhalten, nicht davor wegzulaufen. Dann tragen wir alle ein Stückweit den Nächsten in unserem Kreis mit, in der Studierendenschaft im Ev. Studienwerk und in Heidelberg, und darüber hinaus. Auch die trauernden Eltern der erschossenen Studentin und die trauernden Eltern des Täters, der so viel Leid über seine und andere Familien gebracht hat. Vielleicht spüren wir dann, dass da eine Widerstandskraft zum Aushalten ist, die uns hilft weiterzumachen.

Vielleicht können wir dann anfangen zu fragen, was können wir tun? Wie verhindert man, dass ein gerade mal Volljähriger ohne Waffenschein im Ausland mehrere Waffen kauft? Kann die Politik da etwas ändern? Was läuft nicht rund in Familien und Freundeskreisen, dass vielleicht Signale der Verzweiflung nicht gesehen werden?

Vielleicht können wir aber gar nichts tun, sondern können nur mittragen, aushalten, die nächsten Schritte mitgehen. Dann ist das gerade richtig und wichtig. Um noch einmal Bonhoeffer zu zitieren: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen.“ Was spricht da für eine Zuversicht, ein Gottvertrauen aus diesem Satz! Geschrieben hat Bonhoeffer ihn 1943, als er bereits im Gefängnis saß. Auch er war offensichtlich überzeugt davon, dass Gott mit ihm war und seine Hand nicht abziehen werde, ihn nicht verlassen, bis er sein Werk für den Dienst im Hause des Herrn vollendet habe, wie es im Buch der Chronik im Alten Testament heißt. In diesem Geist der Zuversicht auch in schweren Stunden können wir besser mit dem Zuspruch „sei getrost und unverzagt und mache es“ umgehen. Dann können wir für alle Opfer des Amoklaufs beten, auch für den Attentäter.

Marcus Nicolini

Das Ev. Studienwerk Villigst ist das Begabtenförderungswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Das Dorper Gemeindemitglied Dr. Marcus Nicolini ist dort einer der Studienleiter. Mehr: https://evstudienwerk.de

 Autor: Dr. Marcus Nicolini

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