Gedanken zum Gedenken und Bedenken

zum 29. Mai 2023

Dieser schöne Monat Mai ist fast zu Ende. Es kommen noch ein paar Tage, die uns durch- und wachrütteln sollten. Beim gedanklichen Vorausplanen dieser Zeilen wurde mir bewusst, dass der Mai mit seinen Gedenktagen uns einiges abverlangt.
Am 10. Mai wurden wir erinnert an die Bücherverbrennungen, die vor 90 Jahren, also 1933, stattfanden. Da zeigten die Nationalsozialisten unverhohlen, wie sie über Menschenwürde, Meinungs- und Kunstfreiheit dachten. Und es folgten Taten, die von keinem Widerstand gestoppt wurden. Schriftsteller mussten erleben, wie ihre gedruckten Worte in Flammen aufgingen. Erich Kästner schaute zu, als seine Bücher ins Feuer geworfen wurden. Die Barbarei nahm ihren Anfang.
Viele Menschen haben sich nach 1945 geschworen: Das darf nie wieder passieren! Nicht die Bücherverbrennung und erst recht nicht, was dann mit der Verfolgung Andersdenkender, der systematischen Vernichtung von Menschen und dem Zweiten Weltkrieg an Unheil noch folgte. Inzwischen sichert unser Grundgesetz in Art. 5.1 die Meinungs- und Kunstfreiheit, weil das ein Standbein der Demokratie ist.

Und nun steht das Gedenken an den 30. Jahrestag des rassistischen Brandanschlags ins Solingen vor der Tür. Die beiden jungen Frauen Gürsün Ince und Hatice Genҁ sowie die drei Mädchen Gülüstan Öztürk, Hülya und Saime Genҁ wurden bei dem Brandanschlag auf das Haus der Familie Genҁ ermordet. Es war mitten in der Nacht, die Menschen schliefen und wurden von dem Feuer überrascht. Die überlebenden Familienmitglieder waren teilweise lebensgefährlich verletzt, und alle tragen dieses traumatische Ereignis bis heute mit sich. Da ist nichts gut, und es ist auch nicht ein vergangenes Geschehen, das man nun doch mal sein lassen kann. Ich möchte schreien, wenn ich solche Gedanken höre! Vor 90 Jahren brannten Bücher, unsere Mütter und Väter haben es (mit manchen Schwächen) geschafft, eine stabile Demokratie zu begründen, sie haben uns die Verfassung als Grundlage dieses Staates mit auf den Weg gegeben. Und doch schaffen wir es nicht, das keimende und wachsende Gedankengut des Nationalsozialismus zu ersticken. Rassistische Anschläge bedrohen und gefährden Menschen, die Bürger:innen dieses Landes sind, die hier Schutz suchen, die hier mit ihrer Familie ein ruhiges Leben führen möchten.

Wir merken, wie schwer es ist, unsere Verstrickung, unser Beteiligtsein zu erkennen und auszuhalten. Superintendentin Dr. Ilka Werner hat es in ihrer Predigt im Radiogottesdienst am 21. Mai in der Stadtkirche so formuliert: „Und es kann sein, dass diese Gottesstimme etwas sagt, was weh tut, was schwierig ist und was uns in eine Schuldgeschichte hineinzieht. Es kann sein, dass diese Gottesstimme sagt: Ihr lebt falsch. Punkt. Ihr lebt falsch. ….
Was heißt es, diesen Satz auszuhalten? – Es heißt, ihn nicht zu verrechnen mit all dem Guten, das wir tun, wenn wir Verantwortung übernehmen in dieser Zeit und unserer Stadt, wenn wir sagen: „Hier bin ich“…. Diesen Satz auszuhalten heißt auch, nicht aufzuzählen, was uns alles abhält von ehrlicher Buße und konsequenter Veränderung. Diese Gründe sind da, und sie bleiben, und trotzdem, wenn wir sie auf die Waagschale legen, wiegen sie Gottes Wort nicht auf, das sagt, tut Buße, fangt neu und ganz anders an, denn ihr lebt falsch. – Und ein letztes gehört dazu, dieses Wort auszuhalten: nach langem Nachdenken zu antworten, auf dieses Wort zu antworten und zu sagen: „Hier bin ich“. Nicht auszubüxen und nicht zu relativieren, nur sagen: „Hier bin ich.“ Hier bin ich, und ich antworte dir, Gott, und ich verantworte das, was schiefläuft in der Welt, was wir Menschen falsch gemacht haben und falsch machen. Ich verantworte das, auch wenn ich persönlich keine Schuld daran habe. Ich übernehme die Verantwortung, weil ich verstrickt bin in das, was falsch ist und Leben zerstört und dem Hass einen Nährboden gibt, weil ich verstrickt bin in Ungerechtigkeit und Gleichgültigkeit und weil ich gefragt bin: Was tust du dagegen? Ich sage nicht, dass es doch mal gut sein muss und dass ich als Einzelne doch nichts ausrichten kann, nein, das sage ich nicht, ich sage: Ja, ich tue, was ich kann, hier bin ich.“

Mevlüde Genҁ ist für mich ein Vorbild dieser Haltung. Ihr Leben ist zerstört worden, als am 29. Mai 1993 fünf Familienmitglieder ums Leben kamen und alle gezeichnet wurden von diesem Brandanschlag. Und was hat sie getan? Zuerst einmal: Sie hat in einer aufgewühlten Stadt, in der Verzweiflung, Empörung und Wut zu Unruhen und Gegengewalt führten, zur Ruhe und Besonnenheit aufgerufen, von Anfang an. Und dann: Sie hat uns nicht den Rücken gekehrt, sie ist geblieben und hat gesagt: Solingen ist mein Zuhause, und hier bleibe ich! Sie war eine fromme Muslima, die aus ihrem Glauben große Kraft gezogen hat. Und unermüdlich war sie eine Predigerin für Verständigung, für ein friedliches Miteinander, für Toleranz. Hier bin ich, liebe Frau Genҁ, und möchte gerne bei Ihnen in die Lehre gehen und mich dafür einsetzen, dass es so wird: ein friedliches, wohlwollendes, großzügiges Miteinander in dieser Stadt. Denn dessen bin ich gewiss: Gute Gedanken sind nicht durch Bücherverbrennung und nicht durch Tod zu stoppen.

Übrigens ist am Wochenende auch Pfingsten!
Wir sollten Türen und Fenster offenhalten, damit ein guter, womöglich Heiliger Geist Einzug halten kann!

Unbedingt zu empfehlen:
Die Inszenierung des Schauspielhauses Düsseldorf, Stadt:kolletiv,
„Solingen 1993“
Die Veranstaltung beginnt in Solingen vor dem Rathaus, dauert etwa 3 Stunden und führt über nicht barrierefreie Wege durch Solingen:
Es ist anstrengend, geht unter die Haut und macht deutlich, dass wir nicht alles mit dem Kopf verstehen können.

Gabriele Bergfeld, 25. Mai 2023

Gabriele Bergfeld

 Gabriele Bergfeld