Ich sehe was, was du nicht siehst.

"Moment mal"-Gedanken von Raphaela Demski-Galla zur Jahreslosung "Du bist ein Gott, der mich sieht!"

Meine Tochter Jule ist drei Jahre alt. Und Jedes Mal, wenn sie ihren Schal anzieht, hat sie großen Spaß, sich darin zu verstecken. Sie sieht in diesem Moment nichts und ist überzeugt davon, dass ich sie dann auch nicht sehe. Wenn ich den Schal runterschiebe, strahlt sie über das ganze Gesicht. Es gibt Situationen in meinem Leben, in denen ich mir auch wünsche, unsichtbar zu sein. In denen ich mich im gemütlichsten Outfit bewegen kann. In denen niemand etwas von mir wollen kann. In denen ich niemandem Rechenschaft ablegen muss. In denen mich nicht mal ein Fettnäpfchen wahrnimmt. In denen ich unterm Radar schwebe. Es ist nur wichtig, dass ich mich selbst aus dieser Unsichtbarkeit auch wieder befreien kann. Mit einem Wimpernschlag würde ich das gerne entscheiden wollen und mit einem großen Strahlen zurückkehren – so wie Jule, wenn der Schal nicht mehr über den Augen liegt.

Pfarrerin Raphaela Demski-Galla

Leider sagt etwas in mir, dass das Leben so nicht läuft und dass die Welt da nicht so mitspielt. Sich unsichtbar zu fühlen in dieser Welt, ist kein schönes Gefühl und in den meisten Fällen auch nicht selbstgewählt. In der Unsichtbarkeit bleibt es oft einsam, frustrierend. Angst und Ausweglosigkeit heißen die Begleiter.

Ich sehe die iranischen Frauen vor mir in ihrem Kampf für Frauenrechte. Für Leben. Für Freiheit. Ich sehe auch ihren Mut vor mir, sich die Kopftücher von den Haaren zu reißen als Zeichen dafür, sichtbar zu machen, was die mächtigen und despotischen Männer alles darunter zu verbergen versuchen. Und gleichzeitig ahne ich, wie traurig, wie ängstlich und gedemütigt, wie frustriert sie sein müssen, eine nach der anderen in diesem so berechtigten Kampf um Würde geschlagen, gefoltert und getötet zu sehen. Aus dem Iran kommen im Moment lauter denn je die Rufe in die Welt: Seht ihr uns? Seht her! Seht an!

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Und es ist unsere Chance, das zu tun. Ihre Stimme laut werden zu lassen. Hinzusehen. Wahrzunehmen. Die Kamera drauf zu halten. Öffentlichkeit zu schaffen. Die Schreie aus der Wüste zu holen.

Hagar macht in der Nacht in der Wüste eine Begegnung. Ihr begegnet ein Engel Gottes, so heißt es. Er sagt ihr, sie solle zurückgehen. Widerstand macht sich bei mir breit. Nein – sie will vorwärtsgehen, weit weg in ein Land, wo sie sichtbar sein darf. Aber nein, der Engel sagt: Kehr zurück! Bekomme deinen Sohn und ich werde dir weitere Nachkommen schenken. Denn der Herr hat dein Elend gehört.

Hagars Weg ist nicht der zurück nach Ägypten. Es ist nicht ihr Weg zu fliehen und sich irgendwie durchzuschlagen. Sie soll standhalten. Aber sie wird beschenkt werden mit dem, was sie im Moment am meisten möchte. Mit der Geburt ihres Sohnes. Zum ersten Mal hat sie jemand als Mutter angesprochen. Zum ersten Mal hat jemand nicht nur die Magd und die Unfreie in ihre gesehen. Zum ersten Mal wird sie als Frau angesprochen, die eigene Pläne haben darf und Wünsche und Perspektiven. In ihr festigt sich das Vertrauen: Gott ist ein Gott, der mich sieht! Mein Innerstes. Mein Fühlen und Denken.

Und ich möchte auch darauf vertrauen, dass Gott mir Menschen an die Seite stellt, die sehen, was bei mir los ist; die mich aus dem Versteck holen, mir den Schal von den Augen nehmen und mir mit einem Lächeln begegnen. Die mir Mut machen, Schritte zu wagen.

Und ich wünsche mir, dass mein Glaube daran, mich zu einem Menschen macht, der seine Augen öffnet. Zu einem Menschen, der das Herz anschaut und sich traut hinter Fassaden zu schauen, in die Wüste zu gehen, den Kampf für Frauen, für Leben, für Freiheit mitzukämpfen. Lassen Sie uns doch gemeinsam versuchen, diesen Glauben zu leben.

Ihre Raphaela Demski-Galla, Pfarrerin

Der Text ist auch der Leitartikel des neuen Gemeindebriefs „leben & erleben“.

 Raphaela Demski-Galla

  Theresa Demski/Ev. Gemeinde Dorp