Ein selbstbestimmtes Leben als Kinderärztin und Krankenschwester.

Die Jüdin und Christin Erna Rüppel hatte in den 1920er- bis Anfang der 1970er-Jahre Gemeindeanbindung nach Dorp.

Die Kinderärztin Dr. Erna Rüppel, geborene Marcus (1895-1970), war eine angesehene Frau. Ihr Onkel Siegfried Feist war Vorstandsmitglied, 1919 Vorsitzender der Synagogengemeinde Solingen. Wie alle deutschen Juden erlitt sie unter der Nazi-Diktatur Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung. Sie nahm ihr Leben selbst in die Hand, um dem Vernichtungswillen der Nationalsozialisten zu trotzen.

Erna Rüppel am Krankenbett. Das Bild ist in den 1920er Jahren entstanden.

Erna Marcus galt bei ihrem Abitur als Jüdin, ohne der jüdischen Gemeinde anzugehören. Den evangelischen Internisten Dr. Hans Rüppel heiratete sie 1921 als Katholikin. Einige Jahre später trat sie dem Monismus bei, der die Einheit der Natur statt des Dualismus von Geist und Materie vertrat.

1927 zog das Ehepaar Rüppel nach Solingen, 1933 bauten sie ihr Haus an der Augustastraße 10 mit zwei Praxen. In Solingen und Umgebung wuchs ihr demokratisch und pazifistisch orientierter Freundeskreis. Dazu zählte auch der Dorper Pfarrer Johannes Lutze.

Der offizielle Juden-Boykott am 1. April 1933 traf auch ihre Arztpraxis. Beide Ehepartner verloren die Kassenzulassung. Nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze von 1935 gab Erna Rüppel ihre Praxis auf.

Zum 1. Oktober 1938 wurde Erna Rüppel die Approbation entzogen, am 10. November 1938 verwüstete die SA ihr Haus. Beteiligt war ein Zahnarzt von der Mummstraße. In dieser Lage entschloss sich Erna Rüppel zur Scheidung, die Ende 1938 erfolgte. Es war ein formaler Akt, damit Hans Rüppel seine Frau, seine Schwiegermutter und seine an Kinderlähmung leidende Schwägerin mit seinem Einkommen materiell unterstützen konnte. Erna Rüppel übertrug ihr Eigentum an dem Haus auf ihren Mann. Nun stand sie ohne Berufsabschluss, ohne Ehemann und ohne Eigentum da.

Sie fand eine Stelle als Lernschwester am Israelitischen Asyl für Kranke und Altersschwache in Köln und arbeitete dort zwei Jahre lang als Krankenbehandlerin.

Nach dem Bombenangriff auf Köln Ende Mai 1942 wurde das Israelitische Asyl, 700 Alte, Kranke und Mitarbeiter, für „arische“ Patienten geräumt und in Baracken und im Fort V in Müngersdorf untergebracht. Als Erna Rüppel in das KZ Theresienstadt deportiert werden sollte, gelang ihr die Flucht. Seitdem lebte sie illegal ohne Ausweis und Lebensmittelmarken, somit ohne Anspruch auf Nahrung, Kleidung, Wohnung und Schutz vor Bomben.

In dieser Lage bewährten sich ihr Mann und ihr Freundeskreis. Sie beschafften einen kroatischen Pass mit falschem Namen, der die Krankenschwester „Anna Markus“, wie sie nun hieß, als Katholikin auswies. In München fand sie eine Arbeitsstelle. Ihr Mann und Tabea Große, Leiterin des evangelischen Kindergartens Burgstraße, besuchten sie dort mehrmals. Sie lebte incognito, bis das Kriegsende sie erlöste.

Dann kehrte sie nach Solingen zurück, führte ihre Praxis wieder, heiratete ihren Mann erneut und engagierte sich im Betreuungsausschuss für politisch Geschädigte.

Erna Rüppel am Schreibtisch. Das Bild ist wohl in den 1950er Jahren entstanden. Sie hat das Bild auf dem Schreibtisch zum Fotografen gedreht. Vermutlich zeigt es ihre Mutter, die 1942 im KZ Theresienstadt ums Leben gekommen ist.

Sie wurde evangelisch und nahm Anteil am Gemeindeleben. Am Heiligen Abend 1963 besuchte sie um Mitternacht die Christmette von Pfarrer Lutze in der Dorper Kirche.

Am 28. Juni 1970 starb sie in Solingen. Unter großer Anteilnahme wurde sie auf dem Friedhof Kasinostraße beerdigt.

(zuerst veröffentlicht im Dorper Gemeindebrief 1/2022, Nov. 2021, Serie „450 Jahre jüdisches Leben in Solingen“)

Dr. Horst Sassin

Horst Sassin