Die Speisung der Fünftausend am Hofgarten.

Was wäre, wenn Jesus Christus nicht am See Genezareth gewirkt hätte, sondern heute in Solingen zum Hofgarten gekommen wäre? Pfarrer Jo Römelt hat sich das anhand des biblischen Wunders der Speisung der 5000 Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen im heutigen Gottesdienst in der Predigt konkret vorgestellt.

Und es begab sich zu der Zeit, als er durch das Bergische Land zog, da kam er in eine Stadt, die heißt Solingen. Und er ging hin und holte dort seine Jüngerinnen und Jünger zu sich aus allen Gemeinden der Stadt und redete freundlich mit ihnen. Und weil er merkte, dass viele von ihnen erschöpft und etwas mutlos waren, beschloss er, sich mit ihnen in die Sonne zu setzen und einen Cappuccino zu trinken. Und er begab sich mit ihnen in das Zentrum und ließ sich nieder an einem Eiscafé vor einem großen Gebäude, das man Hofgarten nennt.

Und als er sich dort gesetzt und eine Weile mit seinen Jüngerinnen und Jüngern geredet hatte, hob er seine Augen auf und sah das Volk, das in den Cafés saß oder durch die Geschäfte zog. Er sah junge und alte Menschen, Eingeborene und Zugewanderte, Menschen aus Höhscheid und Mitte, aus Syrien und der Ukraine, er sah Menschen in Hektik und andere, die sich Zeit ließen, er sah die Kinder kreischend durch den Wasserlauf auf dem Neumarkt laufen, er sah Jungs in Shorts und Mädchen in Tops Eis und Döner essen, er sah junge Männer lässig und laut mit ihren starken Motoren ihre Runden drehen, er sah ältere Frauen an Stöcken oder Rollatoren langsam über den Platz gehen, er sah viele Leute verschiedenen Alters gestikulierend in ihre Handys sprechen, er sah die Unscheinbaren, die still und unauffällig über den Platz schlichen, gelassene und gestresste Mütter und Väter mit lachenden oder schreienden Kindern in Kinderwagen. Er sah Krawatten und Lumpen, brave und wilde Frisuren, er sah Drei-Tage-Bärte, Piercings und Tattoos, er sah fröhliche, gelangweilte, gelöste und starre, offene und verschlossene Gesichter.

Und er sah all die Menschen dahinter – und er sah sie alle mit seinem Herzen. Er spürte Fröhlichkeit und echte Lebensfreude. Er spürte aber auch etwas anderes: den Hunger, der sich bei vielen hinter einem gepflegten und abgeklärten Äußeren verbarg, einen Hunger nach Leben, nach Sinn, nach irgendwas, das mehr war als das alles hier. Er spürte die Unsicherheit und die Ängste hinter der Coolness vieler junger Leute – und er spürte ihre Sehnsucht nach jemandem, der sich traute, erwachsen zu sein und ihnen etwas vom Leben zu zeigen. Und er fühlte eine Menge Einsamkeit hinter all dem Gerede und Gelächter, das sich über den Platz legte wie ein Teppich. Er sah die Armut der einen und den Wohlstand der anderen – und ihre Angst davor, ihn zu verlieren. Er roch die Sorgen, die sich viele Menschen machten um ihre Zukunft, ihre Arbeit, ihre Gesundheit, um den Frieden in ihrem Land und in der Welt, um das Klima und vieles mehr. Er fühlte die Verunsicherung und Erschöpfung, die die lange Zeit der Pandemie bei vielen hinterlassen hatte. Und er spürte überall eine tiefe Sehnsucht nach Orientierung, nach klaren, ehrlichen und ernst gemeinten Worten. Er sah die große Menge, und sie jammerten ihn, denn sie kamen ihm vor wie Schafe, die keinen Hirten haben.

Und er fackelte nicht lange, sondern stand auf und begann zu reden. Er sprach mit lauter und klarer Stimme über den ganzen Platz. Er erinnerte die Menschen daran, wer sie waren und wo sie herkamen, er erinnerte sie an die Würde und Schönheit, mit der sie beschenkt waren, er sprach in großen Bildern von der unbeschreiblichen Liebe seines Vaters im Himmel und er warb für ein Leben, das bestimmt war von Liebe und Solidarität.

Und es geschah, dass die Leute stehen blieben und ihm zuhörten, denn er sprach in Vollmacht: mit der Ausstrahlung eines Menschen, der erfüllt ist vom Geist Gottes, mit der Glaubwürdigkeit eines Menschen, der sich nie hat kaufen und korrumpieren lassen, dem man anmerkt, dass Tun und Reden bei ihm eins sind, und dass er es nicht nötig hat, sich wichtig zu machen. Und die Leute spürten, dass da etwas Wahres und Echtes und zutiefst Ermutigendes war gegenüber all dem Geschwätz und dem oft so empörten Geschrei dieser Zeit – und sie sogen seine Worte auf wie Wasser in der Wüste.

Als nun der Tag fast vorüber war, traten seine Jüngerinnen und Jünger zu ihm und sprachen: „Meister, es ist spät geworden! Du kriegst die Leute heute sowieso nicht alle satt. Lass sie jetzt gehen und selber schauen, wo sie mehr bekommen! Wir sind jetzt auch ziemlich kaputt von diesem Tag – und gleich haben wir auch noch Bauausschusssitzung!“ Er aber antwortete ihnen und sprach: „Nein! Schickt sie nicht weg! Gebt Ihr ihnen zu essen!“

Als sie das hörten, starrten sie ihn an und schüttelten ihre Köpfe. Und einer rief: „Bist Du verrückt? Wie sollen wir das denn machen?“ Und ein anderer: „Wie stellst Du Dir das vor? Das sind doch massenhaft Leute!“ Und noch einer sagte gequält: „Wie sollen wir die denn alle satt kriegen? Uns hört doch keiner mehr zu heute! Und selbst wenn: Wir haben doch selber nicht genug! Wir haben selber einen Haufen Probleme: unser Kirchturm ist kaputt, die Leute treten aus, wir verlieren immer mehr an Bedeutung – wie sollen wir da bitte schön die ganzen Leute satt kriegen??“ Und wieder ein anderer sagte: „Weißt Du eigentlich, was heutzutage los ist? Was es für Riesenprobleme in dieser Welt gibt und allein schon in dieser Stadt? Wer soll die denn alle lösen? Das schafft keiner. Wenn Du einen Menschen getröstet hast, dann kommen zehn neue, die dringend Trost oder Hilfe brauchen. Was wir machen können, das ist doch alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein!“

Jesus hörte ihnen ruhig zu und sagte dann: „Jetzt kommt erst mal wieder runter. Ich habe nicht gesagt, dass Ihr sie alle satt machen sollt! Ich habe gesagt: Gebt Ihnen zu essen! Das ist ein Unterschied! Ich weiß, wie groß der Hunger ist, natürlich. Ich erwarte von keinem von Euch, dass er die Probleme der ganzen Welt löst. Oder dass er sich bis zum Herzinfarkt aufreibt. Aber austeilen, was Ihr habt, das könnt Ihr. Also noch mal: Gebt Ihnen zu essen!“

„Aber …“ fing da wieder einer an, doch Jesus unterbrach ihn freundlich und sagte: „Zeigt mal her, was Ihr habt!“ Da fingen sie zögernd an, in ihren Taschen zu graben und in ihren Herzen, und nach einer Weile holten sie das ein oder andere hervor und gaben es ihm: ihren Glauben gaben sie ihm, nicht gerade gewaltig, aber immerhin. Ihre Hoffnung auf Gottes neue Welt, klein, aber eigentlich gar nicht schlecht, ihre Liebe, manchmal brennend, manchmal auf Sparflamme, die gaben sie an ihn weiter. Und einer hatte noch etwas Zeit und eine andere entdeckte noch etwas langen Atem bei sich, und der eine, der fand bei sich einen guten Gedanken und die andere, die hatte ein tröstendes Wort. Und eine fand ein schönes Lied auf ihren Lippen. Da war noch einer, der hatte neue Ideen, und eine andere, die hatte ein Gespür für den Wert des Alten. Und ein Kind war da, das brachte eine satte Portion Unbeschwertheit und Lebensfreude mit und gab sie einfach locker ab – mit einem unwiderstehlich fröhlichen Ernst, wie nur Kinder das können. Und einer machte sein Portemonnaie auf und holte da was raus. Und sie gaben ihm, was sie hatten.

Und er nahm es in seine Hände – und es war nicht gerade berauschend viel, ungefähr so wie fünf Brote und zwei Fische. Und das Brot war an manchen Stellen schon etwas trocken, aber manches war doch frisch und verlockend! Und Jesus nahm es und nickte zufrieden und sah auf zum Himmel und hielt all diese Dinge Gott hin und sagte: „Ewiger Gott, Vater im Himmel, ich danke Dir für all die Schätze, die ich hier in Händen habe. Danke für die wunderbaren Gaben dieser wunderbaren Menschen! Danke für alles, womit Du uns reich machst! Du siehst den Hunger der Menschen hier und anderswo. Segne alles, was wir jetzt verteilen. Und sättige uns mit Deinem lebendigen Brot!“ Und die Jüngerinnen und Jünger hörten ihn und wunderten sich, dass er so dankbar war für so weniges.

Er aber ging auf die Leute zu und begann, seine Gaben auszuteilen. Und die Leute nahmen sie und gaben sie weiter nach rechts und nach links. Und die Jünger schauten ängstlich hin und dachten, dass nach kurzer Zeit alles weg sein müsste. Aber nein – es ging weiter und immer weiter von Hand zu Hand, es ging von Depot über TK Maxx, Thalia, H&M bis zu Camp David Soccs und wieder zurück, und weiter von La Lina über Engbers, Rituals, Ernstings Family bis zu Claire´s und der Sparkassenfiliale und von da nach oben zu Saturn und in den Food Court. Und es wanderte weiter nach unten zu Pauli, Deichmann und dm, und dann wieder nach draußen, durch die Seitengassen am Weinhaus vorbei über den Alten Markt und vorbei an den Fronhof-Cafés bis zum leerstehenden Kaufhof, und oben am Lumen wieder zurück, und es wurde die Hauptstraße entlang weitergereicht an den Parfümerien und Handyläden und Eiscafes vorbei und immer weiter, am alten Appelrath- und Küpper- Gebäude entlang bis zu den Billigläden an der Untern Hauptstraße – und es nahm kein Ende.

Und es geschah, was keiner für möglich gehalten hätte: Sie alle wurden satt. Sie alle wurden satt! Und nicht nur das: Was zurückkam von den Leuten, war mehr, als man ins Spiel gebracht hatte.

Jetzt möchtet Ihr wahrscheinlich gerne wissen, wie das zugegangen ist. Ehrlich gesagt: Ich weiß das auch nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese völlig sorglose und vertrauensvolle Art Jesu, alles unter die Leute zu verteilen, manches Herz und manche Tasche geöffnet hat. Vielleicht könnte man sagen, dass Jesus das verschüttete Potential all dieser hungrigen Menschen aktiviert und ausgegraben hat und viele plötzlich zu schauen begannen: Was ist denn in meiner Tasche und in meinem Herzen? Was habe ich denn beizusteuern zu dieser wundervollen Party hier? Und dass sie alle miteinander geschaut haben, was passiert, wenn Menschen ihre kleinen Begabungen und Stärken zusammenlegen – ohne Angst, etwas zu verlieren. Was für ein Segen wäre das für diese Zeit und für den kommenden Winter! Wenn wir nicht länger ständig „defizitorientiert“, sondern „ressourcenorientiert“ leben würden.

Aber ehrlich gesagt: ich möchte das alles gar nicht unbedingt erklären. Ich komme langsam in das Alter, wo man keine Lust mehr hat, Wunder zu erklären. Sondern wo man sich wieder mehr danach sehnt, dass sie einfach geschehen. Nicht nur damals vor 2.000 Jahren, sondern heute und hier. Wir sollten weniger erklären, was ein Wunder ist. Sondern eher zulassen, dass Gott uns zum Wunder macht.

Und die Menge der Menschen staunte über das, was da geschehen war, und sie sprachen: „So etwas haben wir noch nie gesehen!“ Nur die Kinder, unser heutiges Taufkind Jule und all die anderen, die wunderten sich nicht so sehr. Denn sie wussten noch, dass so etwas möglich war. Und sie lachten und winkten Jesus zu wie einem alten Bekannten, als er sich auf den Weg machte und mit seinen Jüngerinnen und Jüngern die Mall und den Neumarkt verließ. An der Clemenskirche verabschiedete er sich von ihnen und sprach: „Ich muss weiter, Ihr Lieben! Es wartet Arbeit auf mich in einer Stadt namens Wermelskirchen! Außerdem soll es da ein super Café geben. Aber ich hoffe, Ihr habt heute Abend gesehen, wie reich Ihr eigentlich seid! Es ist alles da! Macht Euch keine Sorgen!“ Und er umarmte und herzte sie, winkte ihnen noch einmal zu – und verschwand.

Die Jüngerinnen und Jünger machten sich auf den Weg zurück in ihre Gemeinden, schweigend oder im regen Gespräch, gerade so, wie es ihre Art war. Und mehr als einer von ihnen beschloss auf dem Heimweg, sein Morgengebet nicht mehr zu beginnen mit der Klage über die Menge an Problemen, sondern mit Dank für den Reichtum um sich herum.

Amen.

Jo Römelt

Marcus Nicolini