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Mit dem Erinnern nicht aufhören.
Neues Kinderbuch über ein jüdisches Solinger Mädchen von zwei Dorperinnen mitgeschrieben. - Stadtrundgang am 9. November, dem Tag der Reichspogromnacht 1938.
Es gibt normale Nächte. Und es gibt Nächte, die so dunkel sind, dass es dafür keine Worte gibt.
Es gibt Menschen, denen es ganz recht ist, darüber kein Wort mehr zu verlieren. Die so gerne vergessen und verschweigen möchten, was in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, also vor genau 84 Jahren, geschah. Auch in Solingen.
Das aber dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen uns erinnern und mit immer neuen Worten davon erzählen, welches Unrecht in der Reichspogromnacht 1938 seinen Lauf genommen hat. Nicht irgendwo, sondern in Solingen und überall im Land! Wir müssen uns daran erinnern und erzählen, dass die, denen dieses Unrecht widerfuhr, schutzlos waren, weil das Recht nicht mehr zählte und das Unrecht plötzlich salonfähig war.
Wie ein solches Unrecht aussehen konnte, erzählt das Bilderbuch „Wer rettet Bella?“, das gerade erschienen ist und allen Solinger Grundschulen für die Erinnerungsarbeit im Rahmen des Religionsunterrichts oder in fächerübergreifenden Projekten zur Verfügung gestellt wird. Erzählt wird die Kindheit von Bella Altura, einem Solinger Mädchen aus jüdischem Elternhaus.
„Es war die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als Bella die Worte verloren gingen. In dieser Nacht verlor sie ihre Sprache.
Bella schlief mit ihrem Kindermädchen Betty in ihrem Zimmer und der Vater in seinem Schlafzimmer, als lauter Lärm alle drei weckte. Die Wohnungstüre wurde aufgebrochen und viele uniformierte SS-Männer drangen mit ohrenbetäubendem Geschrei in alle Räume der Wohnung ein. Betty, Bella und ihr Vater mussten sich anziehen, während sie von drei Männern bewacht wurden. Gleichzeitig begannen die fremden Männer, in der Wohnung alles zu zerschlagen, was ihnen unter die Augen kam. Sie rissen Bilder und Spiegel von den Wänden, warfen Möbelstücke um, zerschmetterten Porzellan an der Wand oder traten es mit ihren schweren Stiefeln kaputt. Überall lagen Scherben von den Kristallgläsern, die ihre Mutter immer auf den festlich gedeckten Tisch gestellt hatte.
Bevor sie aus der Wohnung auf die Straße getrieben wurden, sah Bella noch, wie die Männer Schränke öffneten und alles auf den Boden warfen. Auch ihre Puppe Sonia fiel herab. Bella wollte sie mitnehmen, doch schon nahm einer der Männer ein großes Messer, lachte böse und zerschnitt die Puppe in Stücke.
Grobe Hände schubsten Bella die Treppe hinunter. Draußen schlugen die Uniformierten grundlos mit aller Gewalt auf ihren Vater ein. Während zwei ihn festhielten, boxte ihn einer in den Bauch. Ein anderer schlug gegen seinen Kopf, bis er auf dem Boden lag. Mehrere Männer traten mit aller Wucht zu.
Bella schrie und wollte ihren Vater schützen, aber Betty hielt sie zurück. „Sei still, du dreckiges Judengör, sonst schlagen wir dich auch!“, brüllte einer der Männer. Da zog Betty Bella mit ihrer ganzen Kraft die Straße hinunter in die Dunkelheit. Bloß weg von der brutalen Schlägerei!
Bellas Kindheit endete in dieser Nacht. Bella war sieben Jahre und drei Wochen alt. Sie war voller Angst und Verwirrung und hatte keine Worte für das, was geschah. Es war, als würde diese eine Nacht nicht enden.“ (S. 21/22)
Für Bella ging diese Nacht im Polizeigefängnis auf der Potsdamer Straße weiter. Dort hin wurde ihr Vater, schwer verletzt, von Polizisten verschleppt. Und da Bella nicht bereit war, ihren Vater alleine zu lassen, sperrte man sie gleich mit ein.
Um es vorweg zu nehmen: Die Geschichte von Bella Altura ist eine Mut- und Hoffnungsgeschichte. Die Flucht der Familie aus Solingen über Belgien, Frankreich und die Schweiz endete 1947 in Amerika. Dort lebt Bella Tabak Altura noch heute.
Vielleicht lag ein Segen auf dieser Familie. Die Eltern wussten, dass sie ihr Leben und das von Bella nicht sich selbst verdankten. Und so feierten sie immer wieder ihre Dankbarkeit vor Gott. Der Vater betete und sang und segnete seine Tochter. Bella spürte dabei seine Hand auf ihrem Kopf. Welche innere Stärke mag ihr Glaube ihnen geschenkt haben?
Vielleicht hatte Familie Tabak einfach nur ungeheures Glück. Glückliche Zufälle womöglich, die sie ins Exil brachten.
Vielleicht war es noch anders. Vielleicht gab es da auf ihrem langen Fluchtweg den einen oder anderen Menschen, der das Richtige tat. Der nicht wegschaute, sondern mit etwas Geld oder Lebensmitteln half. Der eine Wohnung zur Verfügung stellte. Der ein gutes Wort und einen freundlichen Blick schenkte. Der die Passkontrolle im Zug mit innerer Haltung und einer Herzensentscheidung beendete, indem er die Flüchtlinge passieren ließ.
Und damit bin ich bei den Gründen, warum wir auch heute über das Unrecht sprechen müssen, das schon so lange zurück liegt. Wir sind es allen Menschen schuldig, die die menschenverachtende Politik des Nationalsozialismus nicht überlebt haben (allein in Düsseldorf gab es in der Reichspogromnacht 17 Todesopfer und 70 Schwerverletzte) oder für den Rest ihres Lebens traumatisiert wurden. Wir müssen über Antisemitismus informieren und aufklären, weil er auch heute wieder Blüten treibt.
Und wir müssen darüber reden, weil wir gefragt sind. Welche Haltung nehmen wir ein, wenn es mal brenzlig wird? Wo ergreifen wir Partei, wo stellen wir uns an die Seite von Menschen, die uns für ihr (Über)leben gerade ganz unbedingt brauchen?
Wie halten wir unsere Angst im Zaum, selber weniger zu haben, teilen zu müssen, wo wir doch selber die Zukunft nicht kennen?
Am 9. November findet um 17 Uhr ein auch für Familien geeigneter Stadtrundgang durch Solingen auf den Spuren von Bella statt. Mehr: https://max-leven-zentrum.de/gedenken-an-novemberpogrom-9-november-2022/6562/
Menschenrechte sind unteilbar. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter führt uns vor Augen, wie Jesus das gemeint hat mit der Nächstenliebe. Und bestimmt fallen auch Ihnen noch viele gute Gedanken ein: „Einer trage des anderen Last!“ Oder: „Was du dem Geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan.“ Oder: „Wer nur ein einziges Lebens rettet, rettet die ganze Welt.“ Oder: „Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben schenkt, so ist es, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben geschenkt.“ Weisheiten aus der Bibel, dem Talmud und dem Koran.
Es ist wichtig, dass wir nicht vergessen, was passiert ist. Und dass wir entscheiden, woran wir uns ausrichten.
WER RETTET BELLA?
Die wahre Geschichte einer Flucht aus Solingen
Erzählt von Gabriele Bergfeld, Christina Schulz zur Wiesch u. Corinna Maßmann
Illustriert von Alina Schmidt
ab Anfang November: Bergischer Verlag, ISBN 978-3-96847-040-5, 14 €
Gabriele Bergfeld
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