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Was bleibt?
Gedanken zum Totensonntag (24.11.) von Pfarrer Jo Römelt zu Matthäus 22, Verse 23-33.
115 Namen werden wir heute Nachmittag verlesen – die Namen der Verstorbenen des letzten Jahres. Und hinter jedem Namen steht eine ganz eigene Geschichte. Und jeder einzelne Name stellt die Frage: Was bleibt? Was bleibt von diesen 115 Menschen, die wir zu Grabe getragen haben? Und was bleibt von Euch und von mir, wenn es eines Tages so weit ist? Irgendwann wird mein Name an einem Totensonntag verlesen werden. Und dann?
Ich glaube, dass es keinen Menschen gibt, der diese Frage nicht in sich trägt. Auch wenn sie längst nicht jeder offen stellt. Ich frage in Trauergesprächen oft: „Was glauben Sie, ist jetzt mit ihm oder ihr?“ Ganz oft kommt dann als erstes die Antwort: „Ich weiß es nicht!“ Und das ist ja auch völlig richtig. Wir wissen nichts. Wir hier haben die Erfahrung des Todes alle noch vor uns. Und den Tod untersuchen, wie man irgendein Objekt untersucht, das geht nicht. Wir können untersuchen, was mit dem menschlichen Körper im Sterben passiert. Aber was der Tod ist und was nach ihm kommt, ist und bleibt ein Geheimnis.
Die Frage ist also: Was glauben wir? Was trauen wir uns, zu hoffen? Und wo nehmen wir das her? Viele Menschen antworten auf die Frage nach ihren verstorbenen Angehörigen: „Er oder sie lebt in unserer Erinnerung weiter.“ Da ist was dran. Wenn wir uns an jemanden erinnern, dann bleibt etwas von dem, was wir mit ihm oder ihr geteilt haben. Und das ist nicht wenig. Erinnerungen können ein so kostbarer Schatz sein. Nur: was ist dann mit denen, die keinen haben, der sich erinnert? Ich denke an einen Mann, den ich vor längerer Zeit beerdigt habe: kein einziger Mensch ist zu seiner Beerdigung gekommen. Die Sargträger waren so freundlich, die Trauergemeinde zu bilden. Wer wird sich an ihn erinnern? Sein Name wurde an einem Totensonntag genannt. Und er steht in den Unterlagen unseres Friedhofs. Aber wer wird etwas mit diesem Namen verbinden? Für mich wäre es schlimm, wenn ich nicht glauben dürfte, dass da einer ist, der zu ihm gesagt hat: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du gehörst zu mir! Ewig!“ Und irgendwann geht es doch uns allen so: auch wenn sich am Anfang vielleicht viele an uns erinnern: irgendwann sind auch die nicht mehr da und irgendwann ist da keiner mehr, dem unser Name wirklich noch etwas bedeutet. Weiterleben in den Erinnerungen anderer – ja, aber eben nur begrenzte Zeit.
Und genauso ist es mit einer anderen Antwort, die ich oft höre: „Sie oder er lebt in uns weiter, in seinen, ihren Kindern und Enkeln.“ Auch da ist etwas dran. Wir geben etwas von uns in unseren Kindern weiter. Etwas von uns begegnet in ihnen, manchmal sogar mehr, als ihnen lieb ist. Aber auch hier genau dieselbe Frage: Was ist mit denen, die ohne Kinder sterben? Oder: Was ist mit denen, die als Kind sterben? Oder als Jugendliche oder junge Erwachsene. Vergehen sie spurlos, während von den anderen etwas bleibt? Und wenn nicht: wie lange werden diese Spuren noch wahrgenommen werden?
Ich kann und will nicht glauben, dass irgendein Mensch spurlos aus diesem Leben verschwindet. Ich erlaube mir die Hoffnung, dass da nach dem Tod noch etwas sein wird. Das, was der christliche Glaube die Auferstehung von den Toten nennt. Mir ist klar, dass andere das für Wunschdenken halten. Und dass es keine echten Beweise gibt für ein Leben nach dem Tod. Ich habe auch keine. Aber ich meine, ich habe einen guten Grund, das zu glauben.
Und der hängt zusammen mit der Erfahrung von Ostern. Da sind die Freundinnen und Freunde Jesu, völlig verängstigt und niedergeschlagen nach seinem gewaltsamen Tod am Kreuz. Durch den praktisch alles zerstört worden ist, was ihnen Halt und Perspektive gegeben hat. Und diese Leute, die da buchstäblich am Ende sind, die erleben plötzlich etwas, was ihnen die tiefe Gewissheit gibt: Er lebt! Ihr Freund und Meister, den sie auf furchtbare Weise umgebracht haben, ist nicht länger stumm und tot, so, wie wir´s nicht anders kennen, sondern er lebt. Mit ihm ist etwas geschehen, was jenseits aller Erfahrung ist: er ist aus dem Tod herausgerufen worden. Markus erzählt, dass die Frauen und Männer darauf nicht gleich jubelnd reagieren, sondern erstmal irritiert und verängstigt. Und gerade das ist für mich so überzeugend: da haben sich nicht einfach ein paar Leute was zusammengeträumt! Ich glaube, dass diese alten Geschichten nicht von Wunschdenken erzählen, sondern von Realität: nicht von der Wirklichkeit, die wir hier untersuchen und messen können. Sondern von Gottes Wirklichkeit, die das Geheimnis des Lebens selber ist. Er lebt – und wir werden in ihm leben. Das ist es, was wir glauben und hoffen dürfen über den Tod hinaus.
Aber wie sollen wir uns das vorstellen? Genau da wird es schwierig: Wir können uns das nicht vorstellen. Unsere Vorstellungskraft reicht nicht so weit. Und ein Leben nach dem Tod bei Gott ist eben nicht einfach die schönere Verlängerung von all dem, was wir hier erleben und kennen. Das bringt eine Geschichte um Jesus schön zum Ausdruck.
Da kommt eine Gruppe von Sadduzäern zu ihm. Die Sadduzäer lehnen den Glauben an eine Auferstehung der Toten ab. Und jetzt wollen sie Jesus klarmachen, wie absurd der Gedanke ist, dass es das geben könnte. Sie fragen Jesus also: „Meister, stell Dir vor: da sind sieben Brüder. Einer davon heiratet. Und stirbt, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Nach unserem Gesetz heiratet sein Bruder jetzt die Witwe und soll für Nachkommen sorgen. Aber schon kurz darauf stirbt der auch. Also heiratet sie der dritte – und stirbt. Und so weiter, bis alle sieben Brüder tot sind. Schließlich stirbt auch die Frau. Wie ist das nun in der Auferstehung: Wessen Frau von den sieben ist sie denn jetzt da oben?“ Und Jesus antwortet und sagt: „Ihr irrt Euch komplett. Ihr denkt, wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann läuft da auch alles so weiter wie bisher – nur eben unbegrenzt. So ist es nicht. Wenn das Leben zu Gott zurückkehrt, dann wird es nicht mehr so sein wie hier. Dann wird nicht alles in Familien und Sippen und Verbänden und Nationen geteilt und getrennt sein wie bisher. Es wird ein Leben in neuer Gestalt und Gemeinschaft sein. Sie werden sein wie die Engel im Himmel.“
Hinterm Horizont geht es also nicht einfach weiter wie bisher – sondern es fängt etwas Neues an. Und wenn Jesus sagt, wir werden sein wie die Engel, dann erklärt er damit eigentlich gar nichts. Er sagt damit gerade nicht: „Ihr werdet alle mit einer Harfe auf einer Wolke sitzen“ oder so. Nichts gegen Harfen, die sind wunderbar! Aber ich würde mir das trotzdem ziemlich langweilig vorstellen. Jesus sagt damit: „Ihr werdet in der unmittelbaren Gegenwart Gottes leben!“ Denn genau dafür stehen Engel: für Gottes Gegenwart. In Gott selbst werden wir sein.
Und wie das ist, können wir uns nicht vorstellen, sondern nur vorsichtig in Bildern andeuten. Paulus sagt zum Beispiel: Wir werden in ein ganz neues Haus einziehen, das Gott für uns bereitstellt. Oder er sagt: Wir werden ein neues Kleid bekommen, nachdem wir das alte Kleid dieses Lebens abgelegt haben. Oder: Unser Leben hier ist wie ein Weizenkorn. Das muss erst in die Erde, und vieles daran muss sterben, unser Ego, unsere Überlebensstrategien, unser ängstliches Sorgen um unser Leben, all das werden wir in seinem Licht erkennen, und all das wird von uns abfallen, und dann wird sich das entfalten, was Gott sich eigentlich mit uns gedacht hat: unsere eigentliche Gestalt, die volle Ähre, der ganze Reichtum, den er in uns hineingelegt hat, und all das Unfertige, das Bruchstückhafte, das Verletzte und Verlorene an uns wird vollendet zu dem, was Gott sich erträumt hat, als er uns schuf. Es wird ein Prozess der Vollendung und Heilung sein. Und der Vereinigung des Getrennten. Ich glaube, wir dürfen wirklich voller Hoffnung zueinander sagen: „Wir werden uns wiedersehen!“ Wir müssen uns nur vor Augen führen, dass dieses Wiedersehen ganz anders sein wird, als wir es uns hier vorstellen. Dass Gottes Wirklichkeit etwas viel Größeres und Weiteres ist als alle Bilder und Wunschvorstellungen, die wir uns von ihr machen können.
Und ich glaube immer mehr, dass es uns guttut, über all diese Dinge miteinander zu reden. Davon, was der Tod in uns auslöst an Fragen, an Ängsten, an Trauer und Schmerz – und von unserer Hoffnung. Und da sind wir immer noch weit von entfernt. Es gibt zwar inzwischen an manchen Stellen eine größere Offenheit, es gibt die Hospizbewegung, es gibt Trauercafes und Trauergruppen, wo offen geredet werden kann, und das ist ein Segen. Es gibt daneben aber immer noch ein großes Schweigen über den Tod und die Frage, was uns dann erwartet. Ich habe das Gefühl, da ist die Angst, wir würden den Tod herbeireden, wenn wir von ihm sprechen. Ich glaube, das Gegenteil ist wahr. Die Auseinandersetzung mit dem Tod bringt uns dem Leben näher. Es ist verrückterweise so: die Kostbarkeit dieses Lebens wird uns erst so richtig bewusst, wenn wir vor dem Nachdenken über den Tod nicht davonlaufen, sondern uns ihm stellen. Und erst, wenn wir uns dessen bewusst sind, wie kostbar dieses Geschenk ist, werden wir feiern können und lieben und das Wichtige nicht herausschieben und arbeiten für eine neue, veränderte Welt. Gott entgegenarbeiten, auf den wir zugehen. Lasst uns das tun, wenn wir gleich nach Hause gehen oder auf den Friedhof gehen: einfach sagen und spüren: ich lebe! Und mein Leben ist etwas ganz Wertvolles – auch in Zeiten der Trauer! Und ich darf und will es annehmen. Und dem danken, aus dessen Händen ich komme. Und zu dem ich einmal wieder zurückkehren werde, um ganz in ihm zu sein.
Amen.
Jo Römelt
Gemeinde Dorp Screenshot – Andrea Enders