Simone Sassins Schul-AG pflegt den jüdischen Friedhof.

Erinnerung an früheres jüdisches Leben in Solingen - Tag der Jüdischen Kultur am 4. September.

Solingen – Hinter der stark befahrenen Cronenberger- und Kullerstraße, gewissermaßen in ruhiger zweiter Reihe am Estherweg, liegt unter hohen, alten Bäumen Solingens jüdischer Friedhof. Seit 2017 leitet die Dorperin Simone Sassin die Arbeitsgemeinschaft (AG) „Jüdischer Friedhof“ der Alexander-Coppel-Gesamtschule. Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 6 und 7 kümmern sich hier Woche für Woche donnerstags in der 6. Schulstunde um den Friedhof und seine Gräber, befreien Grabsteine und Grabeinfassungen von Moos, gießen die wenigen Blumenrabatten und rechen im Herbst das Laub auf. „Unsere Schüler putzen die Grabsteine ausgesprochen gerne“, weiß Simone Sassin.

Die 58-jährige Bio- und Chemielehrerin wurde 2015 vom früheren Leiter der Schüler-AG Michael Sandmöller gefragt, ob sie die Betreuung übernehmen wolle. „Da ich auch Musik und Religion unterrichte, hatte ich einen leichteren Zugang zum Thema jüdische Erinnerungskultur“, erinnert sich Simone Sassin, die zudem die Frau des Solinger Historikers und Judaica-Forschers Dr. Horst Sassin ist. Schnell war sie von dem mit hohen Mauern eingefassten, parkähnlichen Friedhof im Einzugsbereich der Alexander-Coppel-Schule verzaubert: „Dieser Ort ist etwas Besonderes, er strahlt etwas aus“, so Sassin.

Nach zwei Jahren zusammen mit dem Lehrerkollegen hat die Naturwissenschaftlerin Sassin die Verantwortung für die Schul-AG ganz übernommen. „Hier müssen immer wieder junge Ahorn-Stecklinge aus den Gräbern gezogen werden, sonst ist das hier bald ein Wald“, sagt Simone Sassin, während sie über den Friedhof geht. Professionelle Hilfe bekommt die Friedhofspflege vom Friedhofsamt der Stadt Solingen, die den Rasenmäher für die Grünflächen des Friedhofs stellt.

350 Schülerinnen und Schüler haben bislang an der AG teilgenommen. Die Alexander-Coppel-Schule hat 1987 im Rahmen einer Patenschaft die Selbstverpflichtung übernommen, sich „auf ewig“ um den Friedhof zu kümmern. Jüdische Friedhöfe sind für die Ewigkeit angelegt, jedes Grab ist nach jüdischer Vorstellung für unbegrenzte Zeit Eigentum des Toten. 175 Grabsteine stehen, zumeist eng beieinander, auf dem Friedhof, alle nach Jerusalem ausgerichtet. Der älteste stammt aus dem Jahr 1820. Die letzte Beerdigung hat hier im April 1941 stattgefunden. So ist der Friedhof nach der Zerstörung der Synagoge in der Reichspogromnacht 1938 das letzte öffentlich sichtbare Zeugnis der früheren jüdischen Gemeinde Solingen. Heute gehören die etwas 200 Solinger:innen jüdischen Glaubens zur jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal mit der Bergischen Synagoge.

2008 wurde der AG „Jüdischer Friedhof“ der Alexander-Coppel-Schule, die als frühere Gesamtschule Solingen den Namen des jüdischen Solinger Industriellen trägt, der „Silberne Schuh“ verliehen. Der Solinger Preis für Zivilcourage wird seit 2004 jährlich vergeben, vor allem für mutiges Eintreten für Minderheiten in der Gesellschaft.

Schon lange betreiben die Schülerinnen und Schüler der Friedhofs-AG immer an Chanukka, dem jüdischen Lichterfest parallel zum christlichen Weihnachtsfest, den Briefkontakt mit 30 emigrierten Solinger Juden und deren Nachfahren. Sie leben heute noch in den USA, Polen, Belgien, Schweden, Brasilien, Australien und in Israel.

Der jüdische Staat Israel hat für die Alexander-Coppel-Schule eine besondere Bedeutung. Sie betreibt die Schulpartnerschaft und den Schüleraustausch mit der Junior High School „Menachem Begin“ in Solingens Partnerstadt Ness Ziona. Der Austausch hat zuletzt Anfang 2020 mit 20 Schülerinnen und Schülern, auch denen der AG Jüdischer Friedhof, stattgefunden. Den fest geplanten Gegenbesuch aus Ness Ziona ließ dann der erste Corona-Lockdown platzen.

Ganz neu an der Schule ist der für Oberstufenschülerinnen und -schüler eingeführte Projektkurs „Coppels Kinder“. Anstelle einer Facharbeit recherchieren die Projektkursteilnehmenden ein Jahr zur Geschichte der Coppel-Familienmitglieder. „Bei einem ersten Friedhofsrundgang bekam jeder Schüler die Aufgabe, sich einen Grabstein auszusuchen und über den dort Bestatteten zu recherchieren“, erzählt Simone Sassin. Einige Schülerinnen stellten erst kürzlich der „Mutter des Schüleraustauschs mit Ness Ziona“, Haya Cohen, bei deren Besuch in Solingen ihre Rechercheergebnisse vor.

Als Familienpatriarch wurde der Stahlwarenfabrikant Gustav Coppel 1906 Solinger Ehrenbürger. Er starb 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs und ist auf dem jüdischen Friedhof Solingen beigesetzt. Sein jüngster Sohn Alexander, Namensgeber der heutigen Gesamtschule, starb nach der Deportation 1942 im KZ Theresienstadt. An ihn erinnert heute eine Grabinschrift am Coppel-Familiengrab; weitere Plaketten erinnern an die ebenfalls verschleppten und getöteten Enkelkinder von Gustav Coppel.

Das eiserne Tor des Friedhofs, vom Verrosten bedroht, ist meistens geschlossen. Aber es gibt regelmäßige öffentliche Führungen über den Friedhof, der eine von rund 2400 jüdischen Begegnungsstätten in Deutschland ist. Immer im Mai und im September – in wenigen Tagen am Sonntag 18.9. ab 11 Uhr aus Anlass des „Tages des offenen Denkmals“ – ist wieder eine solche öffentliche Führung. Außerdem wird der Friedhof an Gedenktagen mit dem Besuch des Solinger OB Tim Kurzbach genutzt, wie am Holocaust-Gedenktag am 27. Januar oder am Reichspogromtag 9. November.

 

Für Simone Sassins Schüler-AG steht im kommenden Februar eine Reise nach Prag und Theresienstadt an, eine Recherchetour auf den Spuren Coppels. Vielleicht bekommen sie mehr öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Recherchen, nachdem vor wenigen Tagen die Solingerin und ehemalige Schulministerin Sylvia Löhrmann für ihr umfangreiches Engagement zur Erinnerungskultur mit dem Landesverdienstorden NRW ausgezeichnet wurde. Löhrmann, ehemals selbst Lehrerin an der Alexander-Coppel-Schule, hat sich als Generalsekretärin des Vereins „321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ sehr dafür eingesetzt, jüdisches Leben in Geschichte und Gegenwart sichtbarer zu machen, wie NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst bei der Preisverleihung Ende August sagte.

Simone Sassin wird sich jedenfalls freuen, wenn ihre AG-Teilnehmenden mit neuen Erkenntnissen über die jüdische Solinger Geschichte von der Exkursion zurückkommen.

Mehr über Gustav Coppel: https://evangelisch-dorp.de/aktuelles/vorbild-gustav-koppel/

Weitere Beiträge zu 450 Jahren jüdisches Leben in Solingen mit Bezug zur Dorper Gemeinde:

Organistin Helene Sternsdorff: https://evangelisch-dorp.de/ohne_kategorie/organistin-sternsdorff-in-dorper-und-juedischer-gemeinde/

Marcus Nicolini

Marcus Nicolini