"Tag der Seenotretter" (2): Politik muss Menschen in Not im Mittelmeer helfen.

Die Gemeinde Dorp, Solingens Bürgermeisterin Ioanna Zacharaki und „Solingen hilft e.V. um den Arzt Dr. Christoph Zenses erinnern am „Tag der Seenotretter“ am 31. Juli an das Schicksal von in Seenot geratenen Menschen in Südeuropa. Zwei Gastbeiträge verdeutlichen die humanitäre und politische Dimension der Hilfe aus Seenot im Mittelmeer und der aus ihren Heimaten flüchtenden Menschen. Und wir geben Hinweise, wie man konkret helfen und spenden kann.

Wo bleiben Humanität und Menschenrechte?

Von Ioanna Zacharaki

In den zehn Jahren nach dem Bootsunglück vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa sind über 27.000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken. Der letzte Schiffbruch fand am 14. Juni 2023 statt, bei dem über 600 Menschen vor der Küste der griechischen Hafenstadt Pylos im Mittelmeer ertranken. Die Worte fehlen. Die Wut und die Erschütterung bei Aktivist*innen und Ehrenamtlichen, die seit Jahren auf der griechischen Insel Lesbos bzw. an der Front, direkt an der Peripherie Europas, unermüdlich aktiv sind, ist unbeschreiblich.

Unablässig beklagen Aktivist*innen systematische Push- und Pullbacks, Verzögerungen wie auch Unterlassungen von Rettungsaktionen, sowie die Kriminalisierung von zivilen Such- und Rettungseinsätzen. Insbesondere nach dem Schiffsunglück vor Pylos mit mehreren hunderten Toten bleiben viele Fragen unbeantwortet:

Haben Push- und Pullbacks stattgefunden? Wer kontrolliert das und wie? Wie wurden diese verfolgt und gemeldet? Finden unabhängige Untersuchungen statt und wer übernimmt die Verantwortung für die hunderten Toten? Es geht um Schutzsuchende, die an der europäischen Außengrenze vor der Küste ihr Leben verlieren, weil keiner sich zuständig und verantwortlich fühlt. Die Frage nach Humanität und nach Menschenrechten ist hier mehr als berechtigt.

Angesichts der verheerenden Bedingungen in den Herkunfts-, Transit- und Ausreiseländern und unmenschlicher Grenzpraktiken, die Menschen dazu zwingen, immer gefährlichere Routen zu wählen, war es nur eine Frage der Zeit, bis sich ein Schiffsunglück dieses Ausmaßes wiederholt.

Die Berichte über Pushbacks sind äußerst alarmierend. Die Praxis, Schutzsuchende abzudrängen und in lebensgefährliche Situationen zu bringen, verstößt nicht nur gegen internationales Recht, sondern gefährdet auch das Leben und die Sicherheit derjenigen, die Schutz suchen. Solche Berichte verdeutlichen die Dringlichkeit einer effektiven und humanitären Reaktion, um Menschenleben zu schützen und die humanitären Werte zu wahren.

Die Seenotrettung verkörpert diese Werte in höchstem Maße. Sie steht für Solidarität, Mitgefühl und den Schutz von Menschenleben. Die Kriminalisierung der Seenotrettung stellt eine klare Verletzung dieser grundlegenden Werte dar und gefährdet das Leben und Wohlergehen Schutzsuchender.

Solange die Europäische Union auf Abschottung und Pushbacks setzt, statt darauf, Fluchtursachen anzugehen, faire und sichere Migrationswege zu schaffen und internationale Zusammenarbeit zu fördern, ist die zivile Seenotrettung eine unverzichtbare Komponente einer effektiven Migrationspolitik. Es ist an der Zeit, die Seenotrettung zu unterstützen und sich für eine humanitäre und faire Antwort auf die Migrationskrise einzusetzen.

An der Außenmauer des inzwischen abgebrannten Camps Moria auf Lesbos prangt der Schriftzug „Human Rights Graveyard“ (dt. „Friedhof der Menschenrechte“), was symbolisch für die europäische Geflüchtetenpolitik steht. Auch das Mittelmeer stellt inzwischen einen europäischen Friedhof dar. Trotzdem werden keine konkreten Entscheidungen darüber getroffen, wie das Sterben im Mittelmeer beendet werden könnte und wie legale Wege nach Europa ermöglicht werden könnten. Im Gegenteil – Europa entschied sich am 8. Juni für eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und für die Fortführung ihrer bisherigen Abschottungspolitik.

Die Zielsetzung ist es, alle neuankommenden Geflüchteten an den EU-Außengrenzen zu registrieren. Ankommende Geflüchtete sollen nach dem Grenzübertritt in streng kontrollierte geschlossene Aufnahmeeinrichtungen unter haftähnlichen Bedingungen kommen. Dort soll im Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden, ob die Antragsteller*innen gute Chancen auf Asyl haben.

Auf Lesbos befindet sich eine solche Einrichtung und ist kurz vor der Fertigstellung. „No More Morias“, forderten geflüchtete Menschen, Politiker*innen, Aktivist*innen und Bewohner*innen der Insel nach dem Brand von Moria im September 2020. Auf den Ägäischen Inseln sind nun fünf neue geschlossene Lager, sogenannte „Closed Control Access Center“ (CCAC), errichtet worden. Diese Lager werden mit dem angeblichen Ziel errichtet, schutzsuchenden Menschen eine Unterkunft nach EU-Standards zu bieten und somit neue Morias zu verhindern. In Realität dienen diese Lager allerdings zur isolierten Unterbringung von flüchtenden Menschen in entlegenen Gebieten. Die hohen Stacheldrahtzäune, Wachtürme und Überwachungstechnologie von Röntgenscannern bis Drohnen lassen vielmehr an ein Gefängnis denken als an eine menschenwürdige Unterkunft für schutzsuchende Menschen.

Das CCAC auf Lesbos liegt ca. 40 Kilometer von der Hauptstadt Mytilene entfernt. Es ist mitten im Wald gelegen, dabei ist das Gebiet im Sommer stark durch Waldbrände gefährdet. Im Falle eines Brandes im Waldgebiet um das neue Camp wäre eine schnelle Evakuierung kaum möglich.

Auch hier stellen sich viele Fragen: Wie werden die Prozesse in den haftähnlichen Aufnahmeeinrichtungen laufen? Wer garantiert ein faires und humanes Asylprüfverfahren? Ist der Zugang von Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erlaubt? Wird die neue EU-Regelung Geflüchtete abschrecken, sich wieder auf gefährliche Fluchtwege zu begeben? Wann wird zivile Seenotrettung entkriminalisiert?

Diese und viele weitere Gesichtspunkte sind neben der Kontrolle und der Transparenz über Abläufe der menschenwürdigen Unterbringung und des fairen und humanen Asylprüfverfahrens besonders gefragt! Angesichts der vielen derzeit bestehenden humanitären Krisen und globalen Herausforderung ist die gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit auf die Peripherie Europas im Mittelmeer abhandengekommen. Die Errichtung der CCAC, die systematischen Pushbacks und das tragische Schiffsunglück von Pylos sollten uns aber ein Weckruf sein, unseren Fokus auf die europäischen Außengrenzen zu richten und unsere Politiker*innen in die Verantwortung zu nehmen.

Weitere Infos und Spenden:
Seit 2015 wird mit Spenden Flüchtlingshilfe auf Lesbos geleistet. Mehr dazu auf der Seite der Diakonie Solingen (PDF):

Aktuell werden mit dem lokalen griechischen Verein „Syniparxi – Coexistence and communication in the Aegean“ auf Lesbos Essens- und Lebensmittelverteilaktionen sowie Bildungs- und Freizeitmaßnahmen für Geflüchtete auf Lesbos organisiert. Hierfür sucht das Diakonische Werk Solingen Spenden:

Spenden können außerdem direkt über das Konto des Diakonisches Werkes des Ev. Kirchenkreises Solingen erfolgen, Stichwort „Lesvos“, IBAN DE45 3425 0000 0000 0288 03 (BIC SOLSDE33XXX)

Zur Person:
Ioanna Zacharaki M.A. bezeichnet sich selbst als Aktivistin in der Flüchtlingshilfe auf Lesbos (seit 2008). Die deutsch-griechische Politikerin (SPD) wurde in Griechenland geboren und ist Referentin für Migration und Flucht beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe. Bereits seit 1999 ist Ioanna Zacharaki Mitglied des Solinger Stadtrats und seit 2020 ehrenamtliche Bürgermeisterin der Stadt Solingen.

Für ihr ehrenamtliches Engagement in der Hilfe für Geflüchtete auf Lesbos wurde Ioanna Zacharaki 2020 mit dem Agenda-Preis der Stadt Solingen ausgezeichnet, nachdem sie ein Jahr zuvor das Bundesverdienstkreuz erhalten hatte. Der griechische Verein „Syniparxi“ auf Lesbos ernannte sie im Frühjahr 2023 zur Ehrenvorsitzenden.

> Zum ersten Gastbeitrag von Dr. Christoph Zenses und Barbara Eufinger

 Ioanna Zacharaki

Ioanna Zacharaki, Efi Latzoudi & Sofia Eleftheriadi-Zacharaki